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Teil 46: Eine Kindheit in Krefeld am Vorabend des Ersten Weltkriegs

Veröffentlicht am: 11.10.2023

Wie war das Leben in Krefeld in den Jahren von 1900 bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs 1914? Eine gute Quelle bieten die Erinnerungen des Architekten Helmut Hentrich, die 1991 im Jahrbuch „Die Heimat" wiedergegeben wurden. Sehr anschaulich und detailliert schildert der Krefelder darin seine Kindheitserlebnisse.

Als Sonntagskind in Krefeld geboren

Er wurde als Sonntagskind am 17. Juni 1905 geboren. Er war das dritte Kind seiner Eltern Hubert und Helene, die damals an der Rheinstraße wohnten. Der Vater war als Regierungsbaumeister nach Krefeld gekommen, um hier die Bauleitung des Rheinhafens zu übernehmen. Zuvor hatte das junge Paar in Emden, Münster und Dortmund gelebt. Die Familie des Vaters stammte aus Sachsen, der Großvater mütterlicherseits Otto Bürger hatte seine Apotheke in Wiesbaden verkauft und in Uerdingen eine chemische Fabrik erworben. Der Enkel erinnert sich noch an das Kesselhaus mit den zwei großen Dampfkesseln und die Dampfmaschine, die ihn als Kind sehr beeindruckten. Auch das Haus an der Rheinstraße beschreibt er genau. Es war ein hier übliches Dreifensterhaus mit einem zur Straße gelegenem Salon, zum Garten hin lagen das Esszimmer und ein Wintergarten. Die Küche war im Flügelanbau untergebracht. Nach der Fertigstellung des Hafens bekam der Vater das Angebot städtischer Beigeordneter für das gesamte Bauwesen, den Hafen, die technischen Ämter und aller Grünanlagen, einschließlich der Friedhöfe, zu werden. Dieser berufliche Aufstieg zog einen Umzug nach sich.

Die Rheinstraße um 1916 - Ansichtspostkarte. Repro: Stadtarchiv
Die Rheinstraße um 1916 - Ansichtspostkarte. Repro: Stadtarchiv

Großbürgerliche Kindheit in einer Bockumer Villa

Die Familie, die sich durch die Geburt eines Bruders noch vergrößerte, zog nach Bockum auf die Glindholzstraße. Dort war die zeitgleich mit dem Bockumer Rathaus erbaute Villa des Bürgermeisters frei geworden. Hentrich erinnert sich detailliert an das geräumige Jugendstilhaus mit dem großen Garten, einer Scheune und einem Stall. Für die inzwischen sechsköpfige Familie sorgten zwei Hausmädchen, eine Putzfrau, ein Gärtner und eine Waschfrau, die alle drei Wochen kam. Ein Jahr nach der Geburt seines jüngsten Bruders musste der kleine Helmut den Tod seiner erst elfjährigen Schwester erleben, die an einer akuten Blinddarmentzündung starb. Um den Verlust zu verkraften, verreisten die Eltern und brachten zur großen Freude der Kinder einen kleinen Bernhardinerhund namens Barry mit.

Einkaufsbummel auf der Rheinstraße

Sehr gerne ging der Junge mit seiner Mutter und seiner Großmutter in der Stadt einkaufen. Besonders in Erinnerung ist ihm das Geschäft von Kommerzienrat Haupt auf der Rheinstraße. Dort gab es im linken Ladenteil eine Delikatesswarenabteilung und Südfrüchte, im rechten Teil einen Tabak- und Zigarrenladen. Wie Hentrich bemerkt, gehörte der Besitzer trotz seines Titels damals nicht zur Honoratioren-Gesellschaft „Verein", die, wie er ausführt, damals die Geschicke der Stadt bestimmte. Die wohlhabende und einflussreiche Bürgerschicht war vor 1918 meist protestantisch oder mennonitisch. Der ärmere und größere Teil der Einwohner war katholisch. Die Familie Hentrich war sehr kunstsinnig. Der Vater gehörte dem Vorstand des Museumsvereins an, der erste Museumsdirektor Friedrich Deneken war Helmuts Patenonkel. Krefeld hatte damals ein ungewöhnlich reges kulturelles Leben, die Familie Hentrich besuchte auch häufig das schöne Stadttheater an der Rheinstraße. In den Erinnerungen war Krefeld damals eine freundliche Stadt mit grünen Plätzen und vielen Alleen, die Häuser fast alle weiß verputzt.

1913 - das letzte Weihnachtsfest vor dem Krieg

Nachdem Helmut zwei Jahre zu Hause privat unterrichtet wurde, kam er 1913 in die dritte Vorschulklasse des Realgymnasiums. In diesem Jahr war auch das Weihnachtsfest für den Jungen besonders. Er bekam das Modell eines Passagierdampfers mit Schraubenantrieb, das auch wassertüchtig war. Auf dem Teich von Haus Neuenhofen ausprobierte er es aus. In der Weihnachtszeit wurden alle Leckereien in der großen Küche selbst hergestellt, die Kinder durften auch den Baum, der immer bis an die hohe Zimmerdecke reichte, mitschmücken. Wie es auch Thomas Mann in seinem Roman „Buddenbrooks" schildert, versammelte sich die Familie am Heiligen Abend vor den Türen des Esszimmers und erwartete mit großer Spannung die Bescherung. Zum Essen gab es Karpfen aus dem Stadtwaldweiher. Am zweiten Feiertag traf sich die gesamte Familie bei den Großeltern in Uerdingen und gratulierte dem Großvater mit einem Frühlingsgruß aus dem Wintergarten zum Geburtstag. Einen anderen Geburtstag feierte Helmut Hentrich dann im Januar 1914 in der Schule. Mit Lorbeerkränzen, Ansprachen und Gesang wurde Kaiser Wilhelm II. geehrt.

Sommer 1914: eine Welt geht unter

Ein gutes halbes Jahr später war die Welt eine andere. Helmut Hentrich schildert einen sonnigen Sommernachmittag, den er mit seinen Eltern und einer befreundeten Familie im Stadtwald verbringt. Die Erwachsenen sind plötzlich sehr still und ein Wort fällt, das in den Ohren des Jungen zunächst recht schön klingt: „Sarajewo". Doch das in dieser Stadt auf den österreichischen Thronfolger und seine Frau verübte, tödliche Attentat, ließ die politische Lage in Europa eskalieren. Wenige Wochen nach Sarajewo, am 1. August 1914, begann der Erste Weltkrieg. Der junge Helmut erkrankt an diesem Tag an den Masern. Er erinnert sich aber an seine beiden Onkel, wie sie in ihren Uniformen an seinem Bett standen und bemerkt dazu: „Eine Zeit, die nie wiederkehren sollte, war vorbei."

Hentrich wurde ein bekannter Architekt

Helmut Hentrich überlebte einen weiteren Weltkrieg und wurde ein bekannter Architekt. In den 1950er und 1960er-Jahren machte er sich mit Hochhausbauten im sogenannten „Internationalen Stil" aus Glas und Stahl einen Namen. Zu seinen bekanntesten Bauten zählt das Dreischeibenhaus in Düsseldorf. Er starb in hohem Alter im Jahr 2001.

Mit der Unterzeichnung einer Urkunde durch Kaiser Karl IV. am 1. Oktober 1373 in Prag wird aus dem Dorf die Stadt Krefeld. 650 Jahre ist das nun her. Anlässlich des Jubiläums blickt das Stadtarchiv in chronologischer Folge mit Geschichten und Anekdoten in die Vergangenheit. Der Blick in die Historie richtet sich nicht alleine auf den kleinen Flecken, den mittelalterlichen Siedlungskern, sondern auf das Gebiet des heutigen Krefelds. Alle Beiträge werden unter www.krefeld.de/1373 und www.krefeld650.de veröffentlicht.

 

Alle Beiträge aus der Artikelreihe des Krefelder Stadtarchivs zum 650-jährigen Stadtjubiläum:
Teil 52: 9./10. November 1938 Die Synagoge wird zerstört
In der Nacht vom 9. zum 10. November 1938 brach der Terror mit unglaublicher Wucht über die jüdische Bevölkerung herein.
Stadtplan Krefeld. Repro: Stadtarchiv
Teil 51: 1928-30 die Häuser Lange und Esters entstehen
Die beiden nebeneinander gelegenen Villen für die Direktoren der Vereinigten Seidenwebereien (Verseidag) Hermann Lange und Josef Esters entstanden in den Jahren 1928 bis 1930.
Haus Esters. Archivfoto: Volker Döhne
Teil 50: 1923 - die Separatistenunruhen in Krefeld
Um die 350 Krefelder sollen in den zwei Wochen der separatistischen Herrschaft aktiv gewesen sein.
Nach dem Kampf der Separatisten um das Rathaus. Repro: Stadtarchiv
Teil 49: 1922 - Gründung einer literarischen Gesellschaft
Die Literarische Gesellschaft gründete sich am 27. Februar 1922 als Unterabteilung des Sprachvereins. Das Programm war ambitioniert, mindesten einmal im Monat fand ein Vortrag statt.
Das Ricarda-Huch-Gymnasium. Repro: Stadtarchiv
Teil 48: 1919 - Beginn der belgischen Besatzung
Das deutsche Kaiserreich ist beendet, der Krieg verloren. Für die Menschen folgt eine lange Zeit der Besatzung. Das Rheinland war hauptsächlich französisch besetzt. Im linksrheinischen Gebiet nahmen die Belgier den nördlichen Teil mit den Zentren Aachen und Krefeld ein.
Belgische Soldaten. Repro: Stadtarchiv

Die Krefelder Rheinstraße im Jahr 1916. Bild: Stadt Krefeld, Stadtarchiv
Die Krefelder Rheinstraße im Jahr 1916.
Bild: Stadt Krefeld, Stadtarchiv

 

Informationen zur Reihe: Das Stadtarchiv blickt anlässlich des Stadtjubiläums in die Krefelder Geschichte

Prag. Freitag, 1. Oktober 1373. Mit der Unterzeichnung einer Urkunde durch Kaiser Karl IV. wird aus dem Dorf die Stadt Krefeld. 650 Jahre ist das nun her. Anlässlich des Jubiläums blickt das Stadtarchiv in chronologischer Reihenfolge mit Geschichten und Anekdoten in die Vergangenheit. „Das machen wir mit wissenswerten Beiträgen, aber auch mit humorvollen Geschichten", sagt Archivleiter Dr. Olaf Richter. Der Blick in die Historie richtet sich zwei Mal pro Woche nicht alleine auf den kleinen Flecken, den mittelalterlichen Siedlungskern, sondern auf das Gebiet des heutigen Krefelds.