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Krefelder historische Panoramen

Signat der "Krefelder historischen Panoramen"

Krefelder historische Panoramen

geschöpft aus dem tiefen Brunnen unseres Stadtarchivs

Signat der "Krefelder historischen Panoramen"

 Inhaltsverzeichnis:

  • Folge 5: "Zum Fressen gern" - Mensch und Tier in der Krefelder Geschichte
  • Folge 4: Über „Freiheit und Vornehmheit" - Thomas Mann referierte vor 93 Jahren im Ricarda-Huch-Gymnasium
  • Folge 3: Vor 75 Jahren - Das Kriegsende in Krefeld
  • Folge 2: Unbekannte Quellen zum Bau von Haus Esters im Stadtarchiv Krefeld
  • Folge 1: Das Ende des 1. Weltkriegs, der Lehrer Prof. Dr. Weisflog, seine Oberrealschüler und Lehrerkollegen (des späteren Fichte-Gymnasiums)

 

Folge 5: „Zum Fressen gern" - Mensch und Tier in der Krefelder Geschichte

Von Olaf Richter

Tiere spielen in den bisherigen stadthistorischen Darstellungen kaum eine Rolle. Auch in den Krefelder Geschichtsbüchern kommen sie nicht oder doch nur beiläufig vor, obwohl ihnen heutzutage eigene Zeitschriften und zahlreiche Beiträge in Funk und Fernsehen gewidmet werden.
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Gerade die Stadtgeschichte kann das komplexe Verhältnis von Mensch und Tier aufzeigen. Rinder, Schafe, Pferde, Hunde, Katzen und Hühner waren im Alltag der Krefelder Einwohner stets präsent. Zur Zeit der Stadtgründung vor 650 Jahren wurde im Schatten der Dionysiuskirche auf dem Schwanenmarkt Vieh gehandelt und die Menschen hielten Kühe zu ihrer Fleisch- und Milchversorgung. Mit Tieren waren verschiedene Berufe verbunden, etwa das Schlachter- und Fuhrgewerbe. Um 1760 sorgten Pferde in der von der Leyen'schen Seidenzwirnerei für den Antrieb der Maschinen. An einen Pfeiler angespannt, liefen sie mit verbundenen Augen Runde um Runde über eine Drehscheibe. In der Landgemeinde Linn wurden Hunde zum „Karrenziehen" und „von den Branntweinbrennern zum Erdäpfel Mahlen gebraucht", wie es in einer Archivquelle von 1834 heißt. Noch in den 1870er Jahren hielt man im Haus „Zur Windmühle" auf der St.-Antonstraße, Ecke Klosterstraße, in dem sich eine Bäckerei befand, mehrere Stallkühe.

 

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Das Verhältnis zwischen Mensch und Tier, wandelte sich grundlegend zur Zeit der Industrialisierung und der entstehenden Massengesellschaft. Für die Entwicklung der modernen Verkehrsinfrastruktur waren Tiere unabdingbar. Ohne Zug- und Lasttiere wäre der Betrieb der Krefelder Märkte ebenso wenig möglich gewesen wie das Entladen und der Weitertransport der Kohlenschiffe am Uerdinger Rheinwerft. Weder der Personenverkehr, noch Feuerwehr, Post, Militär, Stadtreinigung oder Polizei kamen ohne Hunde und Pferde aus. 1892 hielt die Krefeld-Uerdinger Fahrgastbahn 24 Pferde. Zwar wurden schon drei der vier Krefelder Strecken (Uerdingen, Hüls und Fischeln) im Dampfbetrieb angefahren. Doch die vierte Pferdestrecke zwischen Bahnhof und Oranierring beförderte allein 528.000 der insgesamt 1,7 Millionen Fahrgäste. Um die in der gesamten Stadt eingesetzten Zugpferde bei der Arbeit zu tränken und danach zu waschen, gab es an der Ecke Mühlenstraße/ Mittelstraße die „Pferdeschwemme."

Die Stadtplanungen des 19. Jahrhunderts wurden nicht nur durch den Wunsch des gehobenen städtischen Bürgertums beeinflusst, Prachtstraßen und Promenaden wie den Krefelder Ostwall einzurichten, um Pferde und prächtige Kutschen zur Schau zu stellen. Sondern es gab auch die Notwendigkeit, abertausende Schlachttiere zuzuführen, um die wachsende Bevölkerung zu ernähren. Die Einwohner sahen damals vor den Metzgereien täglich das Blut in den Rinnsteinen und nahmen die Gerüche, auch das Gebrüll der Tiere beim Schlachtvorgang wahr. 1833, als Krefeld rund 20.700 Einwohner zählte, schlachteten die 49 Metzger 1.680 Kühe und Ochsen, 3.993 Schafe und Kälber und 726 Schweine. Die Diskussion über die Einrichtung eines öffentlichen Schlachthauses kam im Zuge der Cholera-Welle des Jahres 1832 auf, doch erst 1895 wurde das städtische Schlachthaus auf der Dießemer Straße in Betrieb genommen (2004 geschlossen, heute befindet sich dort die „Kulturfabrik"). Anfang der 1930er Jahre betrug der jährliche Fleischverbrauch in Krefeld pro Kopf rund 44 Kilogramm. In der bundesrepublikanischen Wohlstandsgesellschaft nahm der Fleischkonsum weiter zu, wobei das günstige Schweinefleisch besonders gefragt war. 1975 wurden 170.000 Schlachtungen durchgeführt und 1981 (bei 224.000 Einwohnern) rund 230.000, nunmehr fast ausschließlich Schweine.

Abgesehen von Nahrungsversorgung, Verkehr und Gewerbe stellten sich bereits früh Fragen des Tierschutzes auch in der Unterhaltungsbranche. Im Jahr 1822 erlaubte der Krefelder Bürgermeister Jungbluth dem italienischen Menagerie-Besitzer Rossi, „dahier einige Tage seine Thiere zu zeigen." Ihm wurde allerdings untersagt, „das beabsichtigte Gefecht eines jungen Menschen mit einem wilden Thier" durchzuführen. Rossi kündigte den Kampf dennoch an, woraufhin er der Stadt verwiesen wurde.
1877 wurde der „Niederrheinische Tierschutzverein zu Crefeld" gegründet. Laut der Statuten sollten „boshafte, muthwillige und leichtsinnige Quälereien der Thiere" vermieden und „grobe Mißhandlungen und übermäßige Anstrengungen beim Transporte sowie Grausamkeiten bei ihrer Tötung verhindert werden." Im Vorstand des Vereins, der bei seiner Gründung 229 Mitglieder zählte, engagierten sich führende Krefelder und Uerdinger Familien wie Scheibler, Heydweiller und Herbertz. Der Verein zeigte Missstände an, was allein in den ersten fünf Jahren nach der Gründung zu 131 Verurteilungen durch das königliche Amtsgericht führte, die Geld- und sogar Haftstrafen nach sich zogen.

x Im bürgerlichen 19. Jahrhundert kam eine verstärkt gesellige Nutzung von Tieren als Haus- und Freizeitgenossen auf. Das ähnelte teilweise der sozial renommierten Haltung von Reitpferden und großen Hunden im Adel. Im Bürgertum hielt man Rassehunde als präsentable Liebhabereien. Der Spaziergang mit dem Hund wurde zur Kulturtechnik. 1828 hielten in der Bürgermeisterei Krefeld 460 Personen insgesamt 560 Hunde, die sich auf viele Rassen aufteilten. Nach einer im Stadtarchiv verwahrten Liste waren darunter 29 Jagdhunde, 18 Pinscher, 33 Möpse, 3 Windhunde, 108 Spitze, 23 Pudel sowie 8 „Schoßhündgen." Die Halter spiegeln ein sozial differenziertes Spektrum wider: Büroangestellte, Seidenwirker, Wirte, ein Kunstmaler, Schreiner, Fuhrleute, schließlich der Landrat und eine Witwe. Zwei Jagdhunde besaßen die von der Leyen und weitere führende Familien wie die de Greiff, von Beckerath, vom Bruck, aber auch ein Lumpenhändler und der Kreisphysikus.

Größere Kommunen unterstrichen seit dem 19. Jahrhundert ihren Prestige- und Bildungsanspruch mit Tiergehegen, deren Einrichtung mit der räumlichen Verdrängung der Schlachthäuser aus den städtischen Zentren zeitlich parallel verlief. Der heutige Krefelder Zoo im Stadtteil Bockum steht in der Tradition eines zwischen 1880 und 1914 betriebenen privaten Tiergartens, einer Vergnügungsstätte mit Gartenwirtschaft, Ballonfahrten, Feuerwerken und Musikaufführungen. Dort konnten Affen und Papageien, auch Löwen und Bären bestaunt werden. 1938 durch die Stadt neubegründet, zählte man Mitte der 1950er Jahre jährlich 100.000 Besucher (heute rund 430.000). Der Zoo entwickelte sich zu einem überregionalen Ausflugsziel.

Ohne Tiere war die Entwicklung Krefelds zur Großstadt nicht möglich, die im 19. Jahrhundert in nur wenigen Jahrzehnten von 15.000 auf 100.000 Einwohner anwuchs. Tiere und Menschen durchlitten dieselben Zeitläufe. Leben und Daseinszweck der Tiere wurden stets durch menschliche Wertmaßstäbe reguliert, die historisch einem funktionalen und nicht zuletzt auch moralischen Wandel unterworfen sind.

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Abbildungen

Abb. 1: Schwanenmarkt, um 1820. Stadtarchiv Krefeld, Best. 70, Nr. 354
Abb. 2: Obergath 68, Pferdewagen der Krefelder Sauerkrautfabrik Smeets, um 1925. Stadtarchiv Krefeld, Fotobestand Obj.-Nr. 22.537
Abb. 3: Die Krefelderin Paula Nachtsheim (Ehefrau des Kunstmalers Wilhelm Nachtsheim) mit schottischer Schäferhündin Draga, um 1900. Stadtarchiv Krefeld, Fotobestand Obj.-Nr. 39.945
Abb. 4: Stadtarchiv Krefeld, Best. 40/92 Gayk, Jan. 1992.

 

 

 

 

Folge 4: Über „Freiheit und Vornehmheit" - Thomas Mann referierte vor 93 Jahren im Ricarda-Huch-Gymnasium

Von Olaf Richter

 

Fast beiläufig unter anderen Veranstaltungshinweisen kündigte die „Crefelder Zeitung" auf nur wenigen Zeilen am Dienstag, den 6.12.1927 für den Abend einen Vortrag von Thomas Mann an. Also desjenigen Autors, der 1901 die „Buddenbrooks" schrieb, für welches Werk er dann im Jahr 1929 den Literaturnobelpreis erhielt.

Zeitungsausschnitt zum "Thomas-Mann-Abend"

Die Veranstaltung begann um 19.30 Uhr im Festsaal der damaligen sogenannten „höheren Töchterschule", also im Lyzeum auf der Moerser Straße, dem heutigen Ricarda-Huch-Gymnasium. Eingeladen hatte die „Literarische Gesellschaft", die seit ihrer Gründung 1922 regelmäßig Vortragsabende veranstaltete. Mann war bereits im Vorjahr, im Januar 1926, von der Gesellschaft zu einer Vorlesung über „Natur und Nation" nach Krefeld eingeladen worden.

Bei dem Vortrag Manns im Dezember 1927 handelt es sich um ein Aufsatz aus seiner Essaysammlung „Goethe und Tolstoi. Fragmente zum Problem der Humaniät" (1925). Er hatte diesen Vortrag seit 1921 verschiedentlich gehalten, zuerst in Lübeck und auch einige Monate zuvor in Warschau auf Einladung des polnischen PEN-Clubs. Thomas Mann setzte sich bei diesem Thema mit seiner eigenen Profession auseinander, dem Beruf oder der Berufung des Schriftstellers. Dabei stellte er zwei Schriftstellertypen einander gegenüber: Zum einen sah er in Goethe und Tolstoi die „Ruhe, Bescheidenheit, Wahrheit und Kraft der Natur" verkörpert, hingegen in Schiller und Dostojewski die „groteske, fieberhafte und diktatorische Kühnheit des Geistes".

Drei Tage nach seinem Vortrag erschien in der Morgenausgabe der „Crefelder Zeitung" ein Bericht von Karl von Felner (1874-1938, eigentl. Géza Kmosko de Bernice). Felner, seit 1922 in Krefeld als Kunstreferent des Blattes tätig, war selbst Theaterkritiker und Schriftsteller, dessen Stücke damals im Stadttheater gespielt wurden. Felner verfasste eine äußerst kritische Besprechung des Abends, ja geradezu einen Verriss. Dabei ging er kaum auf den Inhalt des Vortrags ein.

Porträtfoto von Thomas Mann

Seine Besprechung war sehr kryptisch und dunkel gehalten. Um diese Kritik verstehen zu können, ist nicht nur eine eingehende Vertrautheit mit den Werken Thomas Manns und besonders auch seines Bruders Heinrich Mann vonnöten, sondern der Leser musste auch der literaturtheoretische Standpunkt Felners bekannt sein. Die Besprechung ist fast ein eigener Essay. Laut Felner ist Thomas Mann „ein Opiat, das den Entschluß des Zeitmenschen zur eindeutigen Entscheidung in einen Rauschzustand locken möchte, in dem der Wille zum neuen Weltbilde in resignierter Abfindung zerfließt, in der Abstauung gegen die Gewässer der geistigen Sündflut, in der wir treiben, verinselt und besser in der alten Schönheit sterben als in neuer Wahrheit auferstehen will." Mann bleibe damit letztendlich ein „Schriftsteller der zivilisierten Belanglosigkeit". Seine Literatur sei unmodern, veraltet. Gerade im Vergleich zum Bruder Heinrich wirft der Rezensent Thomas Mann noch „Parteilosigkeit" und Unentschlossenheit in den Kulturfragen der Zeit vor und schließt mit der Bemerkung, Goethe - sofern er noch lebte - würde Thomas Mann wohl mit einem „olympischen Donnerwetter" strafen.

Ganz anders der Bericht von „G. K." im „Generalanzeiger für Krefeld und den Niederrhein" vom 8.12.: Der Rezensent spricht von einer sehr gut besuchten Veranstaltung, die 1 ¼ Stunden dauerte, was er als ein wenig zu kurz empfand. Thomas Mann habe gut gesprochen, „aber leicht näselnd und so leise, daß er auf den letzten Plätzen des Lyzeumsfestsaales leider kaum zu verstehen war. Thomas Mann wirkt als vornehme Erscheinung und unterstreicht seine Worte mit ebensolchen Gesten. Sein Vortrag ist fein ausgearbeitet und weit mehr sachlich als irgendwie warm oder gar herzlich." Doch die Ausführungen konnten nach Ansicht des Rezensenten „freilich nur wirklich belesenen Menschen zu wahrem Genusse werden" (!).

Der Titel des Vortrags, so fährt der Journalist fort, hätte auch „Goethe-Tolstoi, Schiller-Dostojewski" lauten können, denn das Thema wurde durch die Gegenüberstellung eines „Typenquartetts" von Goethe und Tolstoi einerseits, Schiller und Dostojewski andererseits, entfaltet. Beide Gruppen seien wie folgt zu unterscheiden: Zum einen „Menschen, die in eine behagliche Jugend und sozusagen in den Sonntag hineingeboren wurden, die die tausenderlei Erschwernisse der anderen Menschen gar nicht kennen, und die die Determination, eine Freiheit des menschlichen Willens, nicht anzuerkennen vermögen, während die zweite Gruppe, wie etwa Schiller - Dostojewski, krank, unter materiellen Entbehrungen, sich mühsam durchschlagen mußte." Aber auch in diesem Artikel ist Kritik durchaus vernehmbar: „Die lebhafte Ehrung, die Thomas Mann zuteil ward, galt wohl doch mehr dem bedeutenden Romanschriftsteller, den persönlich kennenzulernen vielen ein Ereignis bedeutete, als Thomas Mann, dem Vortragenden."

Lyzeum um 1920

Thomas Mann wird im Krefelder Hof übernachtet haben, wo sich nach den Vorträgen in der „Literarischen Gesellschaft" oftmals Interessierte mit den Referenten noch zum Gespräch zusammenfanden. Zu einem weiteren Besuch Thomas Manns in Krefeld ist es dann nicht mehr gekommen. Aber auch andere bekannte Literaten trugen in diesen Jahren in diesem Kreis vor, darunter die Schriftsteller Stefan Zweig (der 1926 über „Goethe und Hölderlin" sprach) und Franz Werfel (las 1925 aus seinen eigenen Dichtungen vor) sowie der Philosoph Graf Hermann Keyserling (sprach 1924 über „Östliche und westliche Weisheit").

Abbildungen:
- Abb. 01: Crefelder Zeitung vom 6.12.1927.
- Abb. 02: Thomas Mann. https://alg.de/mitglied/deutsche-thomas-mann-gesellschaft (gemeinfrei).
- Abb. 03: Lyzeum, um 1920. StA KR, Fotosammlung, Obj.-Nr. 21.742.

 

Folge 3: Vor 75 Jahren - Das Kriegsende in Krefeld

Von Olaf Richter

 

Wenn wir auf die letzte Phase des 2. Weltkriegs in Krefeld, also auf die Wochen und Tage vor und dann um den 2. bis 5. März 1945 schauen, deren Gedenken nun zum 75. Mal wiederkehrt, so ist dies die Zeit, in der die Kriegshandlungen im Krefelder Raum weitgehend zum Stillstand kamen. Kriegsrechtlich endete der 2. Weltkrieg erst einige Wochen darauf am 8. Mai mit der bedingungslosen Kapitulation des Deutschen Reiches.

Kriegsschäden auf der Hochstraße, Höhe Hotel Wilmenroth1945
Kriegsschäden im Jahr 1945: Hochstraße Höhe Hotel Wilmenroth. StA KR, Fotosammlung Obj.-Nr. 30.727.

Aus welchen Quellen können wir heute über diese Monate der Stadtgeschichte Kenntnis erhalten? Da sind zunächst Unterlagen aus verschiedenen Beständen des Stadtarchivs zu nennen, dann die staatliche deutsche Überlieferung, also Akten der Landes- und Reichsbehörden einschließlich des Militärs, und natürlich Quellen der Alliierten, vor allem Berichte der amerikanischen Divisionen oder auch Unterlagen des britischen Luftfahrtministeriums, die sich heute in den entsprechenden Archiven in den USA und vor allem in den National Archives in London befinden.

Luftschutz-Kriegstagebuch Reviergruppe I, Krefeld 1944
Luftschutz-Kriegstagebuch der Reviergruppe I, Krefeld, 1944. StA KR, Best. 70, Nr. 502, o.S.

Neben dieser Überlieferung der - man kann sagen - „offiziellen Stellen" sind für die Fragen zum Kriegsende 1945 auch private Quellen wie Erinnerungen der Augenzeugen und ihre Fotos von besonderer Bedeutung.

Josef Hellenbrock, Oberbürgermeister 1956-1961 Dr. Johannes Stepkes, 1945-1949 zunächst Oberbürgermeister, dann Oberstadtdirektor
Links: Josef Hellenbrock (1900-1977), Oberbürgermeister von 1956 bis 1961
(Aufnahme von 1927). StA KR, Fotosammlung Obj.-Nr. 12.119.
Rechts: Dr. jur. Johannes Stepkes (1884-1966), 4. März 1945 bis Februar 1946
(Ober-)Bürgermeister, dann bis 1949 Oberstadtdirektor.
StA KR, Fotosammlung Obj.-Nr. 4.711.

Es lässt sich sicher allgemein sagen, dass die bisherige Aufarbeitung der Krefelder Ereignisse recht intensiv durchgeführt worden ist. So haben die Arbeiten des früheren Stadtarchivars und Zeitzeugen Dr. Carl Müller von 1954 und die Magisterarbeit von Dieter Bommers aus dem Jahr 1966 den heutigen Forschungsstand bereits substantiell dargelegt. Bommers hat dazu verschiedene wichtige Interviews geführt, u. a. mit dem von der amerikanischen Besatzung berufenen Oberbürgermeister Dr. Johannes Stepkes sowie dem späteren SPD-Oberbürgermeister Josef Hellenbrock. Deshalb kann kritisch angemerkt werden, dass die seither erschienene lokalhistorische Literatur zu dieser Phase, aber auch über sie zeitlich hinausgehend, sich nicht selten in der Wiederholung bereits bekannter Sachverhalte erschöpft hat. Das mag mit einem unveränderten Blick auf das Geschehen zusammenhängen, der vor allem auf die einschneidenden Ereignisse und auf die unglaublichen Quantitäten der Zerstörung gerichtet war. Dadurch wurden jedoch Fragen nach dauerhaften mentalen Einstellungen zur NS-Herrschaft in Bürgerschaft und exponierten Gruppen zurückgestellt. Dem wäre beispielsweise anhand des gesellschaftlichen Ereignisses Karneval vor und nach 1945 nachzugehen, oder man könnte auch einmal die Rollen etwa der Stadtverwaltung, einzelner Firmen oder der Frauen in ihrer gesellschaftlichen Funktionalität untersuchen.

 

Briefmarkensammler 1960 "Hitler" beim Karneval 1960
Links: Briefmarkensammler (1960). StA KR, Fotosammlung Bestand 40/92,
April 1960, Nr. 159.
Rechts: Karneval 1960. StA KR, Fotosammlung Bestand 40/92,
März 1960, Nr. 507.

Nichtsdestotrotz sind für solche Fragen seit den 1960er Jahren wichtige Materialien wie Aufzeichnungen und Lebensberichte aus dem privaten Bereich hinzugekommen, ähnlich wie jetzt durch die Initiative des Arbeitskreises um Frau Sandra Franz, die Leiterin der Krefelder NS-Dokumentationsstelle. Das eröffnet uns die Möglichkeit, unsere Kenntnisse über diesen wichtigen Abschnitt der Stadtgeschichte im Frühjahr 1945 mittels neuer, hier vornehmlich aus amerikanischen privaten Sammlungen herrührenden Quellen weiter zu vertiefen.

Wie verlief also das Kriegsende in Krefeld-Uerdingen?

Die bevorstehende Niederlage des deutschen Militärs war der Bevölkerung seit Sommer, spätestens seit Herbst 1944 bewusst. Am 6. September notierte Karl Rembert, der damalige Direktor der Linner Museen und bekannte Lokalhistoriker, in seinem Tagebuch, dass sich endlose militärische Fahrzeugkolonnen von der Front im Westen über die Uerdinger Rheinbrücke zurückzogen. Und Jürgen Wahl, der damals 15 Jahre alt war, erinnert sich, dass er am 8. September 1944 auf der Straße von Tieffliegern angegriffen wurde, was danach zur täglichen Bedrohung geworden sei. Vermehrt floh die Bevölkerung auf das Land, insbesondere nach Mitteldeutschland, wohin auch die niederen Schulklassen von der Verwaltung evakuiert wurden. Von den 172.000 Einwohnern Krefelds zu Kriegsbeginn waren Ende Februar 1945 nur noch 125.000 vor Ort. Unmittelbar vor dem Eintreffen der amerikanischen Truppen flohen noch knapp 10.000 Personen ins Rechtsrheinische.

In den letzten Kriegsmonaten und -wochen war in der Stadt eine eigenartige Mischung von Normalität und Kriegsalltag zu beobachten: Die Schulen hatten im Oktober 1944 ihre Türen geschlossen. Hingegen wurde der Unterricht auf der Webe- und Färbereischule fortgesetzt. Die Examenskandidaten des Wintersemesters 1944/45 legten noch wenige Tage vor dem amerikanischen Einmarsch ihre Abschlussprüfungen ab. Im Herbst 1944 waren die Abendvorstellungen im Varieté „Seidenfaden" auf dem Ostwall überfüllt, die allerdings regelmäßig durch Luftalarm unterbrochen wurden, so dass die Gäste in die Keller eilten. Um Januar, Februar 1945 stellten die meisten Gewerbebetriebe ihre Arbeit ein. Doch der Straßenverkehr, die Ausgabe von Zeitungen und die Verteilung der Post, teilweise auch die Telefonverbindungen, konnten bis zum Einmarsch der amerikanischen Truppen aufrechterhalten werden.

Zum sogenannten Volkssturm verpflichtet, wurden viele Krefelderinnen und Krefelder in den letzten Monaten unmittelbar in die Verteidigung ihrer Heimatstadt eingebunden: Frauen, Alte und ganze Schulklassen höherer Jahrgänge hoben in mühevoller Arbeit Gräben und Schanzen aus, welche die feindlichen Panzer vor Krefeld aufhalten sollten. Schon beim Bau glaubte offenbar kaum jemand an deren Sinn. Das bewahrheitete sich wenig später, als die Gräben von amerikanischen Räumfahrzeugen ohne Schwierigkeiten zugeschüttet oder von den Panzern einfach umfahren wurden.

Zu Silvester 1944 und dann Mitte und Ende Januar sowie noch wenige Tage vor dem Einmarsch der Amerikaner, am 21. Februar 1945, sind teils massive Luftangriffe gegen Krefeld gerichtet worden. Nach dem fast vollständigen Zusammenbruch der deutschen Luftabwehr konnten diese Angriffe im Unterschied zur schweren Bombardierung im Juni 1943 nun sogar tagsüber geflogen werden. Ziele waren die Bahnanlagen; getroffen wurden aber ebenso Wohnviertel, wobei der bis dahin verschonte Südwesten der Stadt nun ebenfalls starke Beschädigungen davontrug und weitere 300 Einwohner in den Trümmern umkamen.

Zerstörungen nach Luftangriff, Leyentalstraße Zerstörungen nach Luftangriff, Kurfürstenstraße

Zerstörungen, Uerdinger Straße 276 Ostwall mit de-Greiff-Säule 1945
Von oben links nach unten rechts:
Zerstörungen vom Angriff am 11.1.1945, hier Leyentalstr. 47-63, Ostseite gegenüber dem
Kaiser-Friedrich-Hain. StA KR, Fotosammlung Obj.-Nr. 9504.
Zerstörungen am 21./22.5.1944, hier Kurfürstenstr. 60 und 64.
StA KR, Fotosammlung Obj.-Nr. 9474.
21./22.5.1944 / Uerdinger Str. 276. StA KR, Fotosammlung Obj.-Nr. 9464.
Ostwall mit De-Greiff-Säule, 1945. StA KR, Fotosammlung Obj.-Nr. 30.726.

In den Tagen vor der Einnahme kreisten verstärkt amerikanische Jagdflieger über der Stadt. Deshalb spielte sich der Alltag zunehmend in Kellern ab. Man verließ die Häuser nur noch im Notfall und viele zogen sich in einen der insgesamt 45 Bunker der Stadt zurück. Der größte Bunker war der am Hauptbahnhof. Er war für 10.000 Personen vorgesehen, doch schließlich pressten sich dort 15.000 Menschen zusammen. Der Schutzbau an der heutigen Friedrich-Ebert-Straße konnte 7.800, und der auf dem Blumenplatz 1.600 Personen aufnehmen. Der im Stadtteil Uerdingen am Röttgen errichtete Bunker, der vor zwölf Jahren abgerissen worden ist, bot auf sieben Stockwerken 5.000 Personen Schutz.

In den Tagen vor der Einnahme, als rund eine halbe Million Flugblätter mit propagandistischen Aufrufen über Krefeld abgeworfen wurden, drängten zusätzlich neben Flüchtlingen, die vor allem aus dem Jülicher Raum stammten, auch tausende Zwangsarbeiter und Kriegsgefangene in die Luftschutzräume. Das waren Niederländer, Belgier, Franzosen, Polen und Russen, die bislang in großen Barackenlagern am Rande der Stadt und in der Nähe der sie beschäftigenden Industriebetriebe hausten. Ein Großteil arbeitete für die Samt- und Seidenindustrie und allein 1.800 Zwangsarbeiter für das Stahlwerk in Fischeln. Nachdem ihre Bewachung aufgegeben war, suchten sie in der Stadt Zuflucht.

In den Bunkern verlief der Alltag unter schwierigsten Verhältnissen. Die Sanitäranlagen waren vielfach defekt, es gab keine Waschmöglichkeiten, das Essen wurde auf Toiletten zubereitet, der Strom fiel aus. Infektionskrankheiten breiteten sich aus und es gab keine Medikamente zur Behandlung Verletzter. Tote konnten nicht aus dem Bunker gebracht und entbindende Frauen nicht versorgt werden.

Es ist sicher bemerkenswert, dass die Behörden unter diesen Umständen die Lebensmittelversorgung aufrechterhalten konnten, was andernfalls unvorstellbare Not nach sich gezogen hätte. Der Stadtverwaltung war es gelungen, Vorräte anzulegen. Sie versorgte die Bäcker mit Mehl und ließ täglich Suppen an die Menschen ausgeben. So fuhren auch bereits am Tag nach dem Einmarsch wieder Lebensmitteltransporte aus dem ländlichen Umfeld zum Krefelder Großmarkt und der Milchhof nahm seinen Betrieb wieder auf.

Das war also in etwa die Lage, als sich amerikanische Verbände nach Kämpfen um Mönchengladbach und Neuss am 28. Februar Krefeld näherten. Ihr hauptsächliches strategisches Ziel bestand in der Einnahme des Brückenkopfes Uerdingen.

Für den weiteren Verlauf sind in der letzten Kriegsphase bzw. noch kurz vor dem 3. März drei wichtige Entscheidungen gefallen. Zum einen hatte sich das deutsche Militär, wie bemerkt, mit seinen Haupttruppen bereits seit Monaten über den Rhein zurückgezogen. Denn die Alliierten wollten das Ruhrgebiet nicht direkt, sondern in einer Umfassungsbewegung von Norden und Süden her angreifen. Krefeld wurde somit nicht in die Verteidigung des rechtsrheinischen Industrie- und Rüstungszentrums hineingezogen. Andernfalls wäre die Stadt vermutlich gänzlich zerstört worden, wie dies etwa mit Düren und Jülich geschehen ist. Zum zweiten war es gelungen, die unmittelbar vor den amerikanischen Truppen zurückweichenden deutschen Panzer und schweren Geschütze, die in der Stadt wegen Treibstoffmangel liegengebliebenen sind, noch am 1. März durch eilig beschafftes und teils beschlagnahmtes Benzin wieder zu starten und auf die andere Rheinseite zu fahren. So wurde ein die Stadt vernichtender Straßenkampf verhindert.
Und schließlich war es eine große Erleichterung, dass die Verkehrs- und Versorgungsanlagen funktionsfähig geblieben sind, dass also die Absicht, sogenannte „verbrannte Erde" zu hinterlassen - abgesehen von der Zerstörung der Uerdinger Rheinbrücke - nicht realisiert worden ist. Dieser Umstand ist den sich verweigernden Verantwortlichen in Militär und Verwaltung zu verdanken. Hingegen drangen die Vertreter der NSDAP bzw. die Spitzen der von ihr gesteuerten Zivilverwaltung gemäß den Befehlen aus Berlin auf Kampf bis zum Letzten. Das Militär aber sah darin keine Option, sah angesichts der Lage in solchen Handlungen keinen Sinn mehr. Mit der Parteispitze setzten sich Teile der Verwaltungsführung, die seit der Zerstörung des Rathauses im Jahr 1943 in der Volksschule Mariannenstraße nahe am Bahnhof-Bunker arbeiteten, noch am 1. März über den Rhein nach Wuppertal ab. Seither versuchten die zurückgebliebenen Verwaltungsbeamten und Personen des öffentlichen Lebens wie Pfarrer und Ärzte, eine gewisse Ordnung in das Geschehen zu bringen.

Am 2. März, einem Freitag, begann bei klarem Wetter der Hauptangriff durch fünf Divisionen von Westen und Südwesten her. Die amerikanischen Truppen kamen von Viersen, Anrath und Willich sowie von Osterath. Der Schwerpunkt der Stoßrichtung mit dem Ziel der Uerdinger Brücke lag zwischen dem Rheinstrom und Willich. Die Verteidigung oblag nur ca. 600 Soldaten, die keine Formation mehr bildeten und sich mit LKW und PKW bewegten. Weiterhin standen rund 200, meist über 50-jährige Polizisten und etliche Volkssturmmänner samt einigen HJ-Angehörigen einer Übermacht tausender, gut mit Waffen und Material ausgestatteter US-Soldaten gegenüber. Von den 1.400 Zivil tragenden Volkssturmmännern sind weniger als die Hälfte überhaupt zum Einsatz erschienen. Sie hatten einige Gewehre und wenig Munition und verließen bald ihre Posten. All das stellte kein nennenswertes Hindernis für das amerikanische Militär dar. Zu Widerstand kam es zunächst nur im Forstwald und in Fischeln, wo eine Volkssturmkompanie von 16- bis 18-jährigen HJ-Mitgliedern Sturmgeschütze auf die von Osterath anrückenden Truppen richtete, was offenbar den meisten Jugendlichen das Leben kostete.

Amerikanische Soldaten, vermutlich Nordwall
Amerikanische Soldaten vermutlich Höhe Nordwall 53.
Stadt Krefeld, NS-Dokumentationsstelle / Kopie aus der Sammlung Jim Daniel.

Das Stadtzentrum Alt-Krefelds wurde jedenfalls noch am 2. März um 15 Uhr besetzt. Viele Bewohner hatten weiße Tücher aus den Fenstern oder an die Klinken der Haustüren gehängt. In diesen Stunden zogen sich die letzten versprengten deutschen Truppen über den Rhein zurück, wobei es zu einzelnen Gefechten kam. Beispielsweise wurde vom Turm der katholischen Kirche in Traar am 3. März mit schwerem Maschinengewehr auf amerikanische Soldaten geschossen. Dabei fielen zwölf Deutsche und drei Amerikaner. Neben derartigen kleineren Gefechten auch in Fischeln und im Forstwald kam es schließlich zu massiveren Kampfhandlungen in Uerdingen.

Rheinbrücke bei Uerdingen nach 4.3.1945
Rheinbrücke bei Uerdingen nach 4.3.1945. Fotograf unbekannt.
StA KR, Fotosammlung Obj.-Nr. 6.206.

Die Einnahme Uerdingens begann mit der Beschießung noch am 2. März ab 17.30 Uhr. Wie erwähnt, hatten sich dort rund 5.000 Personen in den großen Bunker am Röttgen geflüchtet. Das Ringen um die Brücke begann. Im Unterschied zur Alt-Krefelder Innenstadt waren deshalb die Uerdinger Straßen heftig umkämpft. Am 4. März wurde die Rheinbrücke durch einen vom rechten Rheinufer auf die Brücke gefahrenen Munitionswagen gesprengt. In den letzten Tagen hatten die deutschen Truppen an der Brücke 39 Mann verloren.
Einen Tag später, also am Montag, dem 5. März, durften die Insassen den Bunker am Röttgen verlassen, nachdem die Stadt durchkämmt worden war. Im nahen Linn war es nur zu geringen Schäden durch Granateinschläge gekommen.

Doch ebenso wie für Uerdingen gab es für Alt-Krefeld in den folgenden Wochen keine wirkliche Ruhe, da deutsche Truppen regelmäßig aus dem rechtsrheinischen Düsseldorfer und Duisburger Raum in die Stadt schossen, was Einzelnen das Leben kostete.

So muss man hinsichtlich der Verluste an Menschenleben wie folgt bilanzieren: Es fiel eine größere Zahl Soldaten, die für die Tage zwischen dem 1. und 5. März nicht genau beziffert werden kann. In dieser Zeit aber fanden nach den Angaben des Standesamtes in Krefeld-Mitte 22, in Fischeln 14, in Bockum 4, in Oppum 3 und in Uerdingen 49 Zivilpersonen den Tod. In Summe sind seit Kriegsbeginn bei Luftangriffen 2.048 Krefelderinnen und Krefelder umgekommen und außerhalb der Stadt 4.511 Krefelder gefallen.

Unter den materiellen Kriegsschäden stellte der zerstörte Wohnraum das dringlichste Problem dar. Im Vergleich zur Vorkriegszeit waren fast drei Viertel aller Wohngebäude beschädigt und ein Drittel so stark zerstört, dass kein Wiederaufbau mehr möglich war. Viele Kirchen waren in Schutt und Asche gelegt und ebenso 34 der insgesamt 52 Schulen. Über 70 % der Industriegebäude und 36 % der Verkehrsanlagen waren zumeist irreparabel beschädigt.

Zur Einordnung des in der Stadtgeschichte sicher außergewöhnlichen Geschehens zu Beginn des März 1945 kann gesagt werden, dass die Gesamtstadt trotz allem menschlichen Leid, auf das in diesem Abriss nur vage hingewiesen werden konnte, in den letzten Kriegstagen vergleichsweise glimpflich davongekommen ist. Der Stadtteil Uerdingen hat aufgrund seiner strategischen Lage stärker gelitten als Alt-Krefeld.

Damit soll nicht das Leid der vorherigen Kriegsjahre vergessen sein, das in der Stadt zweifelsohne groß und schrecklich war. Es steht außer Frage, dass diese Erfahrungen für die Zeitgenossen bedrückender waren als die Situation zu Ende des 1. Weltkrieges, als die belgischen Truppen im November 1918 in eine völlig intakte Stadt ohne jegliche Zerstörung einrückten.

Mehr dürfte die Lage im Frühjahr 1945 noch mit der in den 1580er Jahren gemein haben: Blicken wir über 350 Jahre in der Stadtgeschichte zurück, dann ist an ein durch einen konfessionspolitischen Krieg um das Kölner Bistum völlig zerstörtes und verlassenes Ackerstädtchen zu erinnern. Der Ort zog erst Jahre später wieder Rückkehrer und Zuwanderer an, die infolge das Textilgewerbe aufblühen ließen, was bis ins vorige Jahrhundert hinein wesentlich zum Wohlstand der städtischen Gemeinschaft beitragen sollte.

Amerikanische Sanitätssoldaten kurz nach dem Einmarsch
Amerikanische Sanitätssoldaten kurz nach dem Einmarsch.
Fotograf bzw. Herkunft unbekannt. Stadt Krefeld, NS-Dokumentationsstelle.

Für die weitaus meisten Menschen in Krefeld wird der Einmarsch der Amerikaner, der Anfang März 1945 erst einmal den Krieg beendete, eine Beruhigung mit sich gebracht haben, wenngleich neben der Dankbarkeit eine ganz ungewisse, oftmals sicher auch hoffnungslose Zukunftserwartung mitschwang. Das wird aus vielen Äußerungen der Zeitzeugen deutlich. Zunächst stand das Überleben, das Weiterleben von Tag zu Tag im Vordergrund.

Wenn wir gegenwärtig in Erinnerung des Kriegsendes in unserer Stadt vor 75 Jahren zusammengekommen sind, so fragen wir freilich danach, wie dies alles - die NS-Herrschaft, die gesellschaftliche Katastrophe in Deutschland, die Entfachung eines weltweiten Krieges - denn „möglich" gewesen ist.

Beispielsweise brauchte eine solche Frage nach der erwähnten völligen Zerstörung der Stadt Ende des 16. Jahrhunderts nicht gestellt werden. Anders schon 1918, als zwar Ursachen in unverantwortlichem militärischem Vabanque-Spiel, aber auch in einer problematischen Entwicklung der Gesellschaft während des Kaiserreiches lagen. Doch stellten sich darüber hinaus im Jahr 1945 ganz andere Fragen oder sie hätten sich stellen müssen: nun nämlich auch nach der ganz individuellen Verantwortung der Überlebenden für das Leid, das in den vorangegangenen zwölf Jahren den jüdischen Nachbarn, verschiedenen Minderheiten und den ausländischen Nationen und freilich auch der einheimischen Bevölkerung zugefügt worden ist.

Man kann wohl wie Dieter Hangebruch in dem entsprechenden Beitrag der Stadtgeschichte über die NS-Zeit festhalten, dass diese dunkle Zeit in Krefeld „keine spezifische Ausprägung erfahren" hat. Das meint, dass es keine besondere Nähe zur NS-Ideologie gab, es kamen keine Persönlichkeiten des Regimes aus Krefeld, wie hier auch keine überregionalen NS-Institutionen beheimatet waren. Es fanden keine hervorgehobenen Aktionen wie NS-Parteitage statt und die Stadt hat trotz ihrer erheblichen ökonomischen Stellung nie einen Besuch Hitlers erlebt.

Krefeld, in Grenznähe zu den Niederlanden gelegen, war doch immer auch ein wenig durch seine Auslandsbeziehungen geprägt, die vor allem auf die Samt- und Seidenindustrie zurückgingen und eine gewisse Weltoffenheit in die Stadt gebracht hatten. Die Stadt war bis 1930 politisch stark durch eine breite bürgerliche, teils nationalkonservative, teils sozialdemokratische Mitte bestimmt, so dass noch bei den Wahlen zur Stadtverordnetenversammlung 1929 die Kommunisten wie die Nationalsozialisten insgesamt nicht viel mehr als jede zehnte Stimme erhielten. Noch bei den Reichstagswahlen Ende Juli 1932 bekam die Zentrumspartei mehr Stimmen als die NSDAP. Das hat zum anderen nicht verhindert, dass nach 1933 eine große Zahl von Krefelderinnen und Krefelder das verbrecherische Regime wie andernorts bejaht und unterstützt hat, wie man auch nicht selten persönlich profitiert hat und zwar als einfache Bürgerin beim Kauf von Mobiliar, das deportierten jüdischen Nachbarn gehört hatte, oder auch als namhafter Kaufmann bei der Übernahme konkurrierender Geschäfte, deren Besitzer zur Aufgabe gezwungen worden waren.

Um diesen Teil der städtischen Geschichte deutlicher wahrzunehmen - was nicht meint: verstehen zu können -, ist auf jeden Fall eine besondere Sensibilität im Umgang mit den Quellen vonnöten. Darüber hinaus könnte auch eine Sicht auf die Historie erklärend sein, die auch von gesellschaftspsychologischen Fragen geleitet wird, welche nicht gar so leicht mit Kategorien von „gut" und „böse" oder Tätern und Opfern umgehen. Möglicherweise wird dann der Blick auf einen grundlegenden Schuldzusammenhang klarer, in dem sich die Menschen seit jeher befinden.

Leicht veränderter Redetext der Gedenkveranstaltung am 3.3.2020 in der Mediothek Krefeld (vgl. Pressebericht zur Veranstaltung (interner Link), 9.3.2020)

 

Folge 2: Unbekannte Quellen zum Bau von Haus Esters im Stadtarchiv Krefeld

 

Von Christoph Moß

 

Als Mitte der 1970er Jahre in Krefeld die Verhandlungen zwischen der Stadt Krefeld und der Erbengemeinschaft Esters zum Erwerb von Haus Esters auf der Wilhelmshofallee 97 bekannt wurden, entwickelte sich schnell eine öffentliche Diskussion über die zukünftige Nutzung des Gebäudes. In einem Schreiben an Oberbürgermeister Hansheinz Hauser vom 23. März 1976 protestierte der damalige Vorsitzende des Krefelder Kunstvereins, Ernst Fischer, gegen Überlegungen, das Grundstück in Parzellen aufzuteilen und gewinnbringend zu veräußern und erläuterte, welche Bedeutung den Häusern Lange und Esters in seinen Augen zukam: „Es gibt in der westlichen Welt keine Stadt, die sich rühmen könnte, eine solche Architektureinheit von Mies van der Rohe, wie sie die beiden Häuser Lange und Esters darstellen, zu besitzen. Die geniale Konzeption dieser Häuser war mit Vorbild für die moderne Architektur unseres Jahrhunderts." Wenngleich die Bauhaus-Forschung lange Jahre diese Wertschätzung nicht teilte und sich dabei auf Mies van der Rohe selbst bezog, der sich später, wenn überhaupt, eher negativ über die beiden Villen äußerte, stehen sie im Zentrum der zahlreichen Aktivitäten, mit denen die Stadt Krefeld im 100. Jahr der Gründung ihr besonderes Verhältnis und ihre Verbundenheit zum Bauhaus zum Ausdruck bringt. Das Stadtarchiv Krefeld trägt diesem Anlass das von Frau Prof. Dr. Stefanie van de Kerkhof geleitete Projekt „Moderne Zeiten im Westen? Industriekultur und Konsumgeschichte Krefelds 1918 -1933" bei, in dem die Chancen der niederrheinischen Regionalökonomie vor dem Hintergrund der spannungsreichen gesellschaftlichen und politischen Geschichte der Weimarer Republik hinterfragt werden. Und seit Kurzem kann das Archiv die Bauhaus-Forschung mit bislang unbekannten Plänen und Zeichnungen aus der frühen Bauphase von Haus Esters bereichern, die in einem unbearbeiteten Aktenbestand aufgefunden worden sind.


Bevor auf diesen Fund näher eingegangen wird, sei kurz erläutert, wie es zu diesem überraschenden Fund gekommen ist. Zu den besonderen Privilegien der Archivare und Archivarinnen zählt zweifellos die Sichtung der umfangreichen Quellenbestände. In diesem Fall nahm der Verfasser Anfang des Jahres bisher noch unerschlossene Unterlagen in den Blick, um ihre Verzeichnung zu planen. Inmitten einer Abgabe des städtischen Liegenschaftsamtes mit den üblichen Unterlagen zu Kauf und Verkauf von Immobilien, Mietangelegenheiten, Erbbaurechtsvorgängen usw. aus den 1950er Jahren fiel ihm ein etwa 30 x 50 cm großer, unbeschrifteter, und insoweit von den anderen Behältnissen abweichender und auffälliger Karton auf. Wie sich nach dem Öffnen zeigte, enthielt er ein Konvolut rund 50 gefalteter Zeichnungen und Pläne, von denen einige in der oberen linken Ecke mit den Worten „Landhaus Dr. Esters Krefeld Wilhelmshofallee" beschriftet waren. Die weitere Sichtung der Unterlagen, der Vergleich mit vorhandenen Bauzeichnungen von Haus Esters sowie die Recherche im Internet führten dann zu dem Ergebnis, dass hier bislang weitestgehend unbekannte Bauzeichnungen des Gebäudes vorlagen.


Die Frage nach dem abgebildeten Gebäude war somit geklärt, jedoch nicht, wie die Unterlagen zum Liegenschaftsamt gekommen waren. Das andere, neben dem Karton liegende Schriftgut konnte nichts zur Klärung beitragen, es handelte sich um verschiedene Vorgänge des Liegenschaftsamtes, vornehmlich aus den 1950er Jahren. Eine bereits erschlossene Akte des Liegenschaftsamtes, die neben Mietangelegenheiten auch einen Vorgang zum Erwerb und der späteren städtischen Nutzung von Haus Esters enthält, barg aber die Antwort auf die oben gestellte Frage. Der Vorgang beginnt mit einer Verfügung des Amtes über die ersten, nach der Besitzübergabe durchzuführenden Aufgaben und enthält u. a. einen farbigen Lageplan aus dem Jahr 1928. Dieser fiel dem Verfasser besonders ins Auge, da eine weitere, identische Ausführung des Plans auch in dem gefundenen Karton lag. Schließlich enthielt eine andere Verfügung vom 3. Februar 1977 die Bemerkung „Baupläne von allen Geschoßflächen sind vorhanden." Diese Hinweise erlauben den Schluss, dass die aufgefundenen Zeichnungen und Pläne bei der Besitzübergabe im Jahr 1977 der Stadt von den Vorbesitzern übergeben und dann vom Liegenschaftsamt aufbewahrt wurden. Vermutlich wurden die Zeichnungen und Pläne im Rahmen der Nutzung für die späteren Renovierungen dem Vorgang entnommen, dann aufgrund ihrer Größe separat gelagert und schließlich erst zu einem späteren Zeitpunkt an das Stadtarchiv zur dauerhaften Aufbewahrung übergeben.

Haus Esters - Abbildung 1
Abbildung 1: Heizungsplan vom Erdgeschoss, 25.8.1928 (StaKr, Bestand 70/2009)


Welche Unterlagen lagen nun in dem Karton? Das gefundene Material besteht aus einem Konvolut von rund fünfzig Einzelblättern, bei denen es sich weit überwiegend um Zeichnungen der Geschosse und Ansichten des Hauses aus verschiedenen Perspektiven (Front, Seiten, Garten, Fassaden usw.) handelt, die teilweise mehrfach vorliegen. Die Zeichnungen der einzelnen Geschosse sind versehen mit detaillierten Angaben zur vorgesehenen Nutzung der Räume, bis hin zur Besenkammer oder dem Weinkeller. Darüber hinaus enthalten sie umfassende Maßangaben jedes einzelnen Raumes. Einige Lage- und Bebauungspläne für die Wilhelmshofallee, ein großformatiger und farbiger Heizungsplan (Abbildung 1), ein ausweislich des aufgebrachten Stempels aus dem Atelier Mies van der Rohe stammender Entwurf eines Noten- und Zeitungsständers im Maßstab 1:10 vom 16. Juni 1930 (Abbildung 2) sowie die Zeichnung eines Abstellraumes auf dem Grundstück von Haus Esters vom 14. September 1945 ergänzen die Hauszeichnungen.

Haus Esters - Abbildung 2
Abbildung 2: Entwurf eines Notenständers für Haus Esters aus dem Atelier Mies van der Rohe, 16. Juni 1930 (StAKr, Bestand 70/2009)


Anhand der Datierungen lassen sich die Hauszeichnungen der finalen Planungsphase des Gebäudes, also der Zeit vor Baubeginn im Oktober 1928, zuordnen. Eine Serie von acht Blättern zeigt die vier (!) Geschosse einschließlich des Kellers, einen Gebäudeschnitt sowie drei Ansichten (Straße-, Garten- und Seitenansicht) und trägt das Datum 20. Juli 1928. Sie ist unterschrieben vom Bauherrn Josef Esters, dem Krefelder Bauunternehmen Girmes & Oediger als Bauleitung sowie dem Architekten Hermann John, der im Atelier Mies van der Rohes für die Ausfertigung der Pläne verantwortlich zeichnete und seiner Unterschrift stets die bedeutungsvollen Wörter „für Mies van der Rohe" voranstellte. Angesichts der zeitlichen Nähe dieser Zeichnungen mit dem überlieferten Lageplan vom 7. Juli 1928 liegt die Vermutung nahe, dass diese Unterlagen als Anlagen Teil des beim städtischen Liegenschaftsamt eingereichten Bauantrags waren. Fünf weitere Blätter datieren vom 11. August 1928, die verbleibenden Zeichnungen sind undatiert, lassen sich aber aufgrund der dargestellten Hausstrukturen ebenfalls der frühen Planungsphase zuordnen.

Haus Esters - Abbildung 3
Abbildung 3: 2. Obergeschoss, 20.7.1928 (StAKr, Bestand 70/2009)


Bei den aus Juli 1928 stammenden Zeichnungen fallen zwei, von der späteren Gebäudestruktur stark abweichende Merkmale besonders auf. Zum einen ist zu diesem Zeitpunkt noch ein zweites Obergeschoss vorgesehen, welches in sechs große und zwei kleine Räume aufgeteilt war, von denen vier Räume Hausangestellte und -gäste beherbergen sollten. Die einschlägige Forschungsliteratur kennt zwar die Planungen für ein zweites Obergeschoss, eine detaillierte Zeichnung, ergänzt um eine Ansicht der dreigeschossigen Seitenfronten waren bislang jedoch unbekannt (Abbildungen 3 und 4). Die Klärung, ob der Verzicht auf das 2. Obergeschoss auf eine Festlegung des Bauherrn auf eine finanzielle Obergrenze oder die künstlerisch-stilistischen Argumentation des Architekten zurück zu führen ist, bleibt der weiteren Forschung vorbehalten.

Haus Esters - Abbildung 4
Abbildung 4: Seitenansicht, 20.7.1928 (StAKr, Bestand 70/2009)


Zum anderen zeigen die Zeichnungen das Haus mit einer vollständig geraden Vorderfront, in deren Zentrum der Hauseingang mit Garderobe und nachgeordneter Diele stehen. Die für beide Häuser charakteristischen vorspringenden Blöcke, in denen die Eingänge durch weit auskragende Dächer betont werden, fehlen in diesen Zeichnungen vollständig. Die Anordnung der Fenster in Erd- und Obergeschoss weicht ebenfalls vollständig von der späteren Umsetzung ab (Abbildung 5).

Haus Esters - Abbildung 5
Abbildung 5: Gerade Straßenansicht, 20.7.1928 (StAKr, Bestand 70/2009)


Fünf Zeichnungen tragen das Datum 11. August 1928, sind also einige Wochen später als die oben beschriebene Serie entstanden. Sie zeigen Keller, Erdgeschoss und Obergeschoss und enthalten Angaben zu den vorgesehenen Nutzungen der einzelnen Räume. Alle wesentlichen Merkmale des späteren Baus sind jetzt vorhanden. Besondere Erwähnung verdient der Umstand, dass vom Erdgeschoss und Obergeschoss jeweils eine Durchschlagszeichnung und eine, später angefertigte, Kopie derselben vorliegen, die zahlreiche handschriftliche Maßangaben und Notizen enthalten. Vermutlich handelt es sich hier um Hinweise auf Umbaumaßnahmen im Gebäude nach 1945.

Haus Esters - Abbildung 6
Abbildung 6: Erdgeschoss Haus Esters, ohne Datum (StAKr, Bestand 70/2009)


Eine weitere, undatierte Zeichnung vom Erdgeschoss schließlich zeigt eine dritte, im Vergleich zum späteren Bau vollkommen abweichende Gebäudeform (Abbildung 6). Das Gebäude erscheint viel breiter und wird von einem überdimensional großen Raum im Zentrum geprägt, dem sich alle weiteren, sehr viel kleineren Räume links und rechts davon anfügen. Alle wichtigen Räume - Herrenzimmer, Damenzimmer, Kinderzimmer, Esszimmer, Halle, Garderobe, Küche, Anrichte, zwei Veranden - sind rechts von der zentralen Fläche angeordnet. Links hinten erscheinen weitere zwei als „Zimmer" gekennzeichnete Räume, eine Küche und ein Bad. Vielleicht dachte der Architekt an einen von Mauern umfassten Hof, an den das Hauptgebäude rechts und ein kleines Nebengebäude links hinten anschließen sollten?


Die umfassende Forschung der vergangenen Jahrzehnte zum Haus Esters konnte die Erbauungsgeschichte des Gebäudes aufgrund der Quellenlage - der Nachlass van der Rohes im New Yorker Museum of Modern Art enthält vergleichsweise wenige Zeichnungen bzw. Korrespondenz zu den Krefelder Häusern - bislang nur recht oberflächlich darstellen. Die hier vorgestellten Quellen geben nun Informationen zur Phase unmittelbar vor Baubeginn, die in Verbindung mit der vorhandenen Korrespondenz wahrscheinlich zu neuen Erkenntnissen zur Erbauung des Hauses führen werden. Zum anderen bieten die verschiedenen, häufig mit vielen handschriftlichen Anmerkungen versehenen, detaillierten Zeichnungen des Gebäudeinneren sowie die diversen Gebäudeansichten umfassendes Interpretationspotential für das Haus betreffende architekturhistorische Fragestellungen, etwa zur Gestaltung des Baukörpers und der einzelnen Gebäudeteile bzw. -räume. Daraus wiederum können Schlussfolgerungen für die Bedeutung der Krefelder Villen in van der Rohes Gesamtwerk und darüber hinaus die Geschichte des Neuen Bauens im Allgemeinen getroffen werden.


Die Unterlagen stehen der Öffentlichkeit im Stadtarchiv unter der Signatur 70/2009 zur Verfügung.

Verwendete Quellen:

Bestand 15 Oberbürgermeister 1945-1999, Nr. 480
Bestand 25/2 Kurt Honnen, Nr. 112
Bestand 46 Zeitungsauschnitte Nr. 2451
Bestand 18 Stadt Krefeld (1945ff), Nr. 5236

Verwendete Literatur:

Kent Kleinman/Leslie van Duzer, Mies van der Rohe The Krefeld Villas, New York 2005; Baukultur Krefeld 2019. Bauhaus 100 in Krefeld, hg. von der Stadt Krefeld 2019;
Wolf Tegethoff, Mies van der Rohe. Die Villen und Landhausprojekte, Essen 1981
Christiane Lange, Ludwig Mies van der Rohe. Architektur für die Seidenindustrie, Köln 2011
Julian Heynen (Hg.), Ein Ort für Kunst. Ludwig Mies van der Rohe - Haus Lange - Haus Esters, Krefeld 1995
Christiane Lange, Anke Blümm (Hg.), Bauhaus und Textilindustrie. Architektur - Design - Lehre, München 2019.

 

Folge 1:
Das Ende des 1. Weltkriegs, der Lehrer Prof. Dr. Weisflog, seine Oberrealschüler und Lehrerkollegen (des späteren Fichte-Gymnasiums)

Von Olaf Richter

 

Vor rund 100 Jahren, zwischen Mitte und Ende November 1918, wurde das Krefelder Straßenbild täglich von Truppendurchzügen, auch ungeordnet und einzeln von der Front rückkehrenden Soldaten bestimmt, die nach dem plötzlichen Kriegsende, Sturz der Monarchie und dem Waffenstillstand vom 9. und 11.11. durch Krefeld weiter Richtung Osten zogen. Wie sich viele Zeitgenossen erinnerten, prägte damals das Feldgrau des kaiserlichen Militärs das hektische Treiben in der Stadt.

So zog am 21.11. ein sächsisches Infanterie-Regiment mit Musikkapelle zur Verpflegung und Übernachtung in die Husarenkaserne ein. Wie die Zeitungen berichteten, wurden unbespannte Wagen mit Gulaschkanonen freudig von der Krefelder Jugend gezogen. Nur drei Tage zuvor waren die ersten Truppen aus Flandern in die Stadt zurückgekehrt. Die Lokalblätter riefen auf, für den Einzug die Häuser mit Blumen und Tannengrün zu schmücken. In den Zeitungen hieß es, dass die Soldaten von der Westfront „als Sieger, nicht als Besiegte" heimkehrten.

Ebenfalls an jenem 21.11., es war ein Donnerstag, traf das fünf Tage zuvor von seinem letzten Standort bei Lüttich abmarschierte Krefelder Landsturm-Infanterie Bataillon VII/46 wieder in seiner Heimatstadt ein. Wie vier Jahre zuvor beim Auszug, es war Mitte September 1914, bejubelte eine große Menschenmenge die Rückkehr der Krefelder Soldaten, obgleich die damals rund 129.000 Einwohner umfassende Stadtgemeinde nun 2.344 Gefallene zu betrauern hatte.

Weisflog zu Pferde
Feldpostkarte an den Direktor der Krefelder Oberrealschule Carl Quossek, mit rückseitiger Aufnahme Weisflogs. Löwen, 12.4. 1918

 

Angeführt wurde das heimkehrende Bataillon von seinem Kommandanten Major Prof. Dr. Weisflog, einem Lehrer an der damaligen Oberrealschule, die dann später, ab 1937, den Namen Fichte-Gymnasium trug. Die Soldaten zogen singend und unter Glockengeläut der protestantischen Alten Kirche ein. Die Truppeneinheit war 1914 zunächst im belgischen Tirlemont (heute Tienen in der Provinz Flämisch-Brabant), dann in Löwen (der Universitäts- und heutigen Hauptstadt dieser Provinz) sowie über die längste Zeit nahe Brüssel, schließlich in Lüttich stationiert gewesen.

Nur wenig später, am Sonntag dem 1.12., fand eine abendliche Begrüßungsfeier für die heimgekehrten Soldaten in der mit Tannengrün ausgeschmückten evangelischen Friedenskirche statt, unter angeblich überwältigendem Andrang der Krefelderinnen und Krefelder. Drei Pastoren würdigten den militärischen Einsatz („die Taten, die jene auf jahrelanger Kriegsfahrt in allen Weltteilen vollbracht haben"). In ihren Predigten gingen die Geistlichen auf die ihrem Verständnis nach derzeit noch „in undurchdringliches Dunkel gehüllte politische Lage ein". Klar gesprochen wurde hingegen von der Schuldlosigkeit des Kaiserreiches angesichts der verfahrenen Lage und des verlorenen Krieges, wie in der Crefelder Zeitung des folgenden Tages zu lesen war. Eine ganz ähnliche Sicht auf die Lage hatte der katholische Pfarrer in Bockum, der in seinen Erinnerungen an die Besatzungszeit schrieb: „Am 1. Dezember 1918 haben wir hier unseren unbesiegten Helden, die aus der Front kamen, mit herzlichem Willkomm in die Heimat, besonders im Festgottesdienst empfangen. Nicht sie, sondern die im Lande zurückgebliebenen waren durch äußere und seelische Not zusammengebrochen."

 

Wer also war Hugo Weisflog, der damals von der Front in das zivile Leben der Stadt zurückkehrte und in diesen Tagen seine Lehrertätigkeit wieder aufnahm?

1857 im oberschlesischen Zawadski, im damals preußischen Kreis Groß Strehlitz (heute Woiwodschaft Oppeln) als Sohn eines Maschinenmeisters geboren, war er evangelischen Bekenntnisses. Er heiratete - allerdings erst nach Erhalt der „Heiraths-Bewilligung" durch das Königliche Provinzial Schul-Kollegium - am 18.8. 1890 auf dem Standesamt zu Bockum (die Gemeinde kam erst 1907 aus dem Landkreis Krefeld zur Stadt Krefeld) die „gewerbslose" Maria Traenkle. Die damals Zwanzigjährige entstammte einer Kaufmannsfamilie: Ihr Vater war der um 1842 in Heidelberg geborene ‚Handlungs-Commis' Wilhelm Albert Tränkle, ihre Mutter die Krefelderin Johanna Mathilde Hennes (*1845). Wie für Angehörige des gehobenen Krefelder Bürgertums nicht ungewöhnlich, war sie „mennonitischer Religion", wie der Eintrag im Heiratsregister kundgibt.

Wie sah die Ausbildung Weisflogs zum Lehrer im Einzelnen aus? Mit 19 Jahren nahm er sein Studium der Mathematik an der Universität Breslau auf (1876-80). Er setzte es 1880-81 an der Universität Wittenberg-Halle an der Saale fort, wo er 1882 zum Dr. phil. promoviert (welcher Titel neben dem Dr. rer. nat. üblich war). Außer seinem Hauptfach Mathematik absolvierte er Prüfungen in Physik, Botanik, Zoologie, Mineralogie und Französisch. 1883 und 1884 leistete er sein Probejahr am Reichenbacher Realgymnasium im Eulengebirge (heute die polnische Kreisstadt Dzierżoniów in der Woiwodschaft Niederschlesien). Anschließend nahm er eine Hilfslehrertätigkeit an der Oberrealschule Breslau an, bildete sich 1884 bis 1885 an der Turnlehrerbildungsanstalt Berlin fort und wurde schließlich 1885 als „Hilfslehrer" an der Krefelder Oberrealschule eingestellt. 1887 war er Oberlehrer, 1905 erhielt er den Titel „Professor".

Daneben diente Weisflog 1877 als sogenannter Einjährig-Freiwilliger, und wurde 1883 zum „Second Lieutenant der Landwehr", 1892 zum Oberleutnant und 1898 zum Hauptmann ernannt. Zur Zeit der ersten Marokko-Krise (1905) meldete er sich spontan für den Fall der Mobilmachung, nachdem er allerdings zwei Jahre zuvor eine Einberufung zu Militärübungen abgelehnt hatte (Weisflog war zuvor mehrfach zu militärischen Übungen einberufen worden, etwa 1891, 1898 und 1903). Mit dem Krefelder Bataillon zog er am 23. September 1914 an die Westfront und wurde im letzten Kriegsjahr zum Major beziehungsweise Kommandeur seines Bataillons befördert.

Oberrealschule am Westwall
Die Oberrealschule am Westwall 14, das spätere Fichte-Gymnasium
(um 1890). StA KR, Bildsammlung, Obj.-Nr. 14108.

Fichte-Gymnasium heute (2013),
Das Fichte-Gymnasium heute (2013), vom Westwall auf der Höhe
Lindenstraße her gesehen. StA KR, Bildsammlung, Obj.-Nr. 38765.


Ohne je die Lehranstalt zu wechseln unterrichtete Weisflog bis zu seiner Pensionierung im Jahr 1922 an der Oberrealschule am Westwall. Seine Personalakte gibt durchaus einem Eindruck von seiner Persönlichkeit und lässt einen ausschnitthaften Blick auf den Schulalltag um 1900 werfen. Dabei ist freilich im Auge zu behalten, das meist nur Probleme aktenkundig geworden sind, nicht das, was reibungslos ablief. Wie dem auch sei, Unterhaltsames findet sich allemal, etwa die jugendlichen Streiche der Schüler, die filmreif sein könnten.

 

Ausschnitt Innenstadtplan von 1943
Ausschnitt eines Bebauungsplanes der Krefelder Innenstadt von 1943. StA KR, Bestand 35, Nr. 143.

 

Hugo Weisflog war also im April 1885 von Berlin nach Krefeld gekommen. Der damalige Direktor der Oberrealschule war Carl Quossek (1849-1929), der die auf dem Westwall Nr. 14 gelegene Anstalt, neben welcher er in Haus Nr. 12 auch wohnte, über einen heute außergewöhnlich langen Zeitraum, von 1884 bis 1920, leitete. Von ihm wurde Weisflog bei Eintritt in den Schuldienst sowie in das 24-köpfige Lehrerkollegium vereidigt. Das geschah, wie es im damaligen Protokoll heißt, in der Erwartung seines einwandfreien sittlichen Verhaltens, nämlich „daß er durch sein Wort und sein Beispiel Gottesfurcht, Achtung vor Gesetz und Obrigkeit, Liebe zum Vaterlande und Ehrfurcht gegen seine Majestät den König in der Jugend zu pflegen und zu fördern sich angelegen sein lasse." Dass solches durchaus ernst genommen worden ist, zeigt jener Verweis, den das Königliche Provinzial Schul-Kollegium zu Koblenz im Jahr 1913 gegenüber dem auf derselben Schule tätigen Professor Paul Roloff ausgesprochen hat (von ihm wird noch die Rede sein). 30 Mark Geldstrafe wurden ihm auferlegt, da man, so heißt es im Schreiben an den Getadelten, „mit Befremden Kenntnis genommen [habe], dass Sie mehrfach von der Schulfeier des Geburtstages Seiner Majestät des Kaisers und Königs, zuletzt in diesem Jahre ohne Grund ferngeblieben sind."

1889, vier Jahre nach dem Eintritt Weisflogs in das Kollegium am Westwall, fanden die Konflikte zwischen ihm und seinen Schülern erstmals Niederschlag in den Akten. So beklagte sich Wilhelm Boltendahl, Inhaber eines auf dem Ostwall 69 angesiedelten Kohlenhandels, beim Direktor über Weisflog. Dieser habe seinen gleichnamigen Sohn auf die Backe geschlagen: Blut sei gelaufen, ja es habe sich gar eine Narbe gebildet. Direktor Quossek ging der Sache nach. Weisflog erklärte, dass es der Tertianer Boltendahl (8. Jahrgangsstufe) in den vergangenen Monaten an Fleiß und Aufmerksamkeit fehlen ließ. Er habe ihn deshalb in seine Privatwohnung bestellt, wo er Nachhilfe erhielt. Doch auch dabei sei er nicht aufmerksam gewesen, weshalb, so Weisflog, „ich es für zweckmäßig hielt, ihm ein Paar Ohrfeigen zu geben, die jedoch nur die vorgehaltenen Hände trafen." Der Schüler habe ihm gegenüber auf Rückfrage allerdings verneint, dass das Blut aufgrund der Ohrfeigen geflossen sei. Der Grund der Beschwerde des Vaters, so Weisflog, liege vielmehr in der Unzufriedenheit mit den schlechten Zensuren seines Sohnes. Direktor Quossek sprach auch mit dem Schüler. Schließlich teilte er dem Vater mit, Weisflog „darauf aufmerksam [zu] machen, daß ich eine derartige körperliche Züchtigung eines Tertianers nicht billige". Soweit also die aus der Rückschau wohl recht moderne Pädagogik des Direktors, der darüber hinaus dem Vater anheimstellte, weitere Schritte gegen Weisflog bei der Aufsichtsbehörde, der Königlich-Preußischen Schulkommission zu Koblenz einzuleiten, was wohl unterblieben ist.

Noch im selben Jahr kam es zu einer weiteren Beschwerde. Der auf der Marktstraße 46 ansässige „Goldarbeiter" Jacob Koch, der demnach als Geselle eines Goldschmieds arbeitete, wurde ebenfalls bei dem Schulleiter vorstellig. Kochs Sohn, der Quintaner Ernst (6. Jahrgangsstufe), sei von Weisflog geschlagen worden, da er eine Aufgabe nicht lösen konnte. Der Vater forderte, solches zukünftig zu verbieten und fügt an: „Ich habe alle Achtung für Zucht und Ordnung, ich habe selbst mit Stolz und Ehre meinem Kaiser und mein [!] Vaterland gedient, aber meine Kinder schlagen, das verbiete ich mir." Direktor Quossek antworte zustimmend, dass er diesem Wunsch „um so eher nachkommen werde, als das Schlagen der Schüler an unser Anstalt durch Entschluß der Lehrerkonferenz ausdrücklich untersagt ist."

Quossek ging auch diesem Fall nach, vernahm den Schüler und forderte andererseits Weisflog auf, Stellung zu beziehen. Weisflog erklärte, dass Ernst Koch im Kopfrechnen „wiederholt die gröbste Unwissenheit" an den Tag gelegt habe, ja es „hatte den Anschein, als ob der Schüler gar nicht denken wollte." Er habe ihm also „einen leichten Backenstreich" und den Rat gegeben, mit „einem der besseren Schüler" zu üben. Das Ziel sollte sein, die für den folgenden Samstag vorgesehene Prüfung zu bestehen. Auch bot der Lehrer dem Schüler an, ihn zuhause aufzusuchen, falls er dennoch Unsicherheiten habe.

Ernst Koch gab in der Vernehmung hingegen an, dass er von Weisflog mehrere Male ins Gesicht geschlagen worden sei; die linke Backe habe geschmerzt und sei dick geworden. Außerdem ließ der Direktor noch zwei weitere Schüler als Zeugen vernehmen, Theodor Hammers und Wilhelm Verbücheln. Beide bestätigten die Aussagen von Ernst Koch und ergänzten, es seien circa 15 Schläge gewesen, die ihren Mitschüler trafen, mehr und minder hart.

Im Jahr 1891 wurde die nächste Beschwerde in die Personalakte Weisflogs aufgenommen. Weisflog hatte mehrere Blätter des Rechenheftes zerrissen, das einem Schüler der fünften Jahrgangsstufe namens Hannen gehörte. Es wiederholte sich das Prozedere der Vernehmungen aller Beteiligten durch die Schulleitung. Direktor Quossek wandte sich auch in diesem Fall an das Königliche Provinzial Schul-Kollegium zu Koblenz. Einleitend teilte er mit: „Gegen den Dr. Weisflog sind schon zahlreiche Beschwerden wegen Beschimpfung und Verhöhnung sowie wegen körperlicher Züchtigung ... eingelaufen". Er habe Weisflog deshalb bereits einen Verweis erteilt. Das geschah allerdings bemerkenswerterweise nicht wegen der Züchtigungen, sondern weil der Lehrer einen dieser Fälle nicht der Direktion gemeldet hatte, wie dies seine Pflicht gewesen wäre.

 

Brief
Umschlag eines Schreibens des Königlichen Provinzial Schul-Kollegiums Koblenz an den Direktor der Krefelder Oberrealschule (1891)

Das Koblenzer Schul-Kollegium teilte Weisflog mit: „Diese Art, der Unzufriedenheit mit der Leistung eines Schülers Ausdruck zu geben, ist ungehörig". Gleichermaßen wurde das Angebot Weisflogs kritisiert, der dem Schüler Geld zur „Wiederherstellung" des Heftes geben wollte. Das Kollegium erteilte ihm „eine Warnung"; man erwartete von Weisflog zukünftig die „einem Lehrer geziemende Besonnenheit bei Ausübung der Schulzucht".

Schulklasse
Schulklasse der Oberrealschule vor dem Pavillon im Stadtgarten (1900). StA KR, Bildsammlung, Obj.-Nr. 35761.


In den folgenden Wochen eskalierte die Situation jedoch weiter. Weisflog sah sich weiterhin im Recht. So wandte er sich auf dem Dienstweg, also über den Schuldirektor, an das Koblenzer Schul-Kollegium. Er bat in einer recht umfangreichen Eingabe „um Schutz gegen Maßnahmen des Direktors". Auf den Gegenstand der Klage ging das Kollegium in seiner Antwort bis auf eine Rüge Weisflogs nicht weiter ein. Quossek leitete dieses heute nicht mehr vorhandene Schreiben ordnungsgemäß weiter, fügte aber seinerseits eine Stellungnahme bei, in welcher er Weisflogs Behauptungen zum Teil als unwahr beschrieb. In diesem Schreiben werden nun die von Weisflog beklagten Maßnahmen offenkundig: So sei ihm das Züchtigungsrecht entzogen worden, der Direktor habe verlauten lassen, dass Weisflog in Krefeld „keine Zukunft mehr hätte" und anderes mehr. Aus diesen Unterlagen geht im Übrigen auch hervor, dass die Anordnung des Direktors, körperliche Strafen einzuschränken, ja zu unterbinden, von der Mehrheit der Lehrerschaft gar nicht gutgeheißen wurde. So sei nämlich gerade deshalb zwischen dem Direktor und seinem Kollegium, so der Schulleiter, „offener Zwiespalt" entstanden. Folglich wurden Weisflogs Methoden von den meisten seiner Kollegen gutgeheißen.

Nachdem sich die Streitigkeiten zwischen Weisflog und seinen Schülern sowie zwischen ihm und seinem Direktor fürs Erste gelegt zu haben schienen, brach nun Ende 1891 ein Zwist mit einem Kollegen, dem Oberlehrer Dr. Schmitz, aus. Dabei ging es um angeblich „systematische Angriffe" Weisflogs, und um das Schlechtreden vor der Schülerschaft, für die Schmitz neben seinem offiziellen Schuldienst offenbar im Schulgebäude auch Privatunterricht erteilte. Weisflog wies solche Anschuldigungen zurück. Seinerseits war die Rede von Beleidigungen, die sein Kollege schriftlich gegen ihn erhoben hätte. Am Silvestertag 1891 reichte Weisflog beim Direktor eine 36-seitige Rechtfertigungsschrift ein, in der er minutiös und detailliert seinen Standpunkt darlegte. Sein Widerpart Schmitz antwortete in knapper schriftlicher Form am 2. Januar 1892 und erklärte, dass er weder „Zeit noch Lust" habe, im Einzelnen auf diese voluminöse Schrift voller „ungehöriger Angriffe" einzugehen. Er wolle seine Beschwerde zurückziehen, da er in dem Zank keinen Sinn erkenne. Er erklärte in klug-resignativer Manier, er wolle eventuelle zukünftige Schmähungen lieber erdulden, als sich mit solchen beschäftigen.

Der Fall Quester, oder: die Schüler besichtigen die schöne Wohnungseinrichtung ihres Lehrers. Noch im Jahr 1892 setzten sich dann aber die Streitigkeiten Weisflogs mit Schülern bezieungsweise deren Eltern fort. Nun ging es sogar bis vor die Gerichte. Die am Alexanderplatz wohnende Frau Stefanie Quester (geborene Florange, die Witwe Theodor Questers) hatte ihn zunächst vor dem Königlichen Landgericht zu Krefeld verklagt und nach Abweisung bei der nächsten Instanz, der Oberstaatsanwaltschaft zu Köln, ihr Recht gesucht (die Kölner Justiz lehnte die Klage übrigens ebenso wie das Krefelder Amtsgericht ab). All das ist wiederum dem Königlichen Provinzial Schul-Kollegium in Koblenz mitgeteilt worden, das sich in der Sache nach Krefeld an den Direktor der Oberrealschule wandte.

Weisflog wurde in dem Verfahren beschuldigt, dem Sohn Stefanie Questers und Untersekundaners Willy Quester (10. Schuljahr) "drei Ohrfeigen versetzt" zu haben.

 

Alexanderplatz
Die Häuser 6-8 und 9-15 auf dem Alexanderplatz, Südwestecke, um 1921.

Dieser Vorfall ereignete sich aber nun außerhalb der Schule. Es geschah an einem Juniabend um 23 Uhr im Hause der Questers am Alexanderplatz 7 (das ist das Nachbarhaus jenes Gebäudes, in dem 29 Jahre später der Aktionskünstler Joseph Beuys geboren wurde). Weisflog und seine Frau, die damals bei Questers zur Miete wohnten, kamen spätabends heim und fanden die Eingangstür mit einer Kette versperrt vor. Das war vielleicht nicht ganz ohne Zutun von Willy Quester geschehen, der den wütenden Lehrer hinter dem Fenster mit Schadenfreude betrachtet haben mag, wer weiß. Aufgrund der nun einsetzenden Streitigkeiten kündigte Frau Quester Weisflog die Wohnung auf, der mit seiner Frau auf der Uerdinger Straße 89 zog.

Doch zurück zum Streitfall: Bei der gerichtlichen Vernehmung erhob wiederum auch Weisflog Vorwürfe gegen seinen Schüler, und zwar durchaus gewichtige Anschuldigungen: So seien im Jahr zuvor Willy Quester, dessen älterer Bruder Theodor - er ist übrigens kurz nach diesen Vorkommnissen als Matrose zur Marine gegangen - und Willys Mitschüler Karl Mackes ein- oder zweimal in Weisflogs Wohnung eingebrochen. Dabei hätten sie "verschiedene Genußmittel entwendet", die Schränke durchsucht und das Mobiliar beschädigt oder gar zerschlagen. Konkret sollen die Jugendlichen im Speisezimmer eine halbvolle Flasche Wein ausgetrunken und "einige Cigarren geraucht" haben. Schließlich sei ein Sessel beschädigt worden, "indem einer von ihnen sich ohne die nötige Vorsicht in diesen Sessel niedergelassen" habe, wie sich Weisflog äußerte. Alles dies habe Frau Quester gegenüber Weisflog dann auch zugegeben und ihm als Entschädigung dreißig Mark übergegeben.

Weisflog hatte das derzeit Direktor Quossek angezeigt, der die Schüler vernahm. Mittlerweile war Quossek offensichtlich auf seinen Lehrer nicht mehr gut zu sprechen; er charakterisierte ihn in einem Schreiben als „bekanntermaßen streitsüchtig". Zudem stellte er einige Jahre später Weisflogs pädagogische Kompetenz infrage: Er besitze „nur mäßiges Lehrgeschick, weiß die Schüler nicht zu fesseln, behandelt sie aber hart und lieblos", was sogar auf der Oberrealschule „einen sehr starken Abgang der Schüler verursacht" habe. Auch zweifelte er nicht daran, dass die beiden Schüler, die sich bislang gut betragen hätten, lediglich leichtsinnig gewesen seien, zumal sie die Wohnungstür mittels eines Schlüssels öffneten, der auf dem Flur versteckt lag. Tatsächlich hätten sie, so der Schulleiter weiter, keinen Diebstahl begehen wollen. Sie seien nur eingedrungen, "um die schöne Einrichtung zu besichtigen, und [haben] sich dann erst zu dem unüberlegten Schritte hinreißen lassen, die Genußmittel auf der Stelle zu verzehren". Der Direktor verhängte keine Strafe gegen die beiden Schüler, sondern forderte die Erziehungsberechtigten auf, ihre Söhne "in angemessener Weise zu bestrafen".

 

Schulklasse
Eine Schulklasse zu Ostern 1903: die Untersekunda des Klassenlehrers Schwab.
Vornamen: O. Beckers und F. Heymann, zweite Reihe R. Kohtz, H. Hengsterberg, O. Mackels, W. Worms, J. Langer, hintere Reihe: P. Gompertz, K. Brill, P. v. Harenne, J. Adams, P. Missy, W. Strompen, A. Mooren, A. Berndt, P. Schmitz, A. Schäfer, H. Bärenfänger, H. Werner, E. Buschmann, W. Storde, K. Herbst.

 

Möglicherweise kam es in den folgenden Jahren zu keinerlei Querelen mehr. Doch spätestens 1903 und 1905 flammte der Streit zwischen Weisflog und Direktor Quossek wieder auf. Weisflog warf ihm nun „Angriffe und Verdächtigungen" wie auch „persönliches Übelwollen" vor. Ausgelöst wurde der Dissens offenbar durch unterschiedliche Auffassungen über die Lehrinhalte, hier insbesondere um die Übernahme des neuerdings in den Lehrplan aufgenommenen Linearzeichnens im Rahmen des Mathematikunterrichts, welche Entscheidung Weisflog ablehnte. Daneben dürfte angesichts der Absicherung des Unterrichtbetriebs die Zurückhaltung des Direktors bei dem erwähnten Wunsch Weisflogs eine Rolle gespielt haben, sich 1905 freiwillig zum Heer zu melden.

Aktendeckel
Personalakte Roloff, StAKR Bestand 72/7, Nr. 704

Ende des Jahres 1910 kam es neuerlich zum Streit. Dieses Mal zwischen Weisflog und seinem Lehrerkollegen und wohl früheren Freund, Professor Paul Roloff (1860-1931). Dieses Zerwürfnis nahm seinen Ausgang von der offensichtlichen, durch Schüler wie Lehrer verursachten Unordnung der physikalischen Sammlung der Schule, für die Weisflog zuständig war. Sie war in vier Schulräumen in Schränken untergebracht. Beide Lehrer beleidigten sich im Beisein ihrer Kollegen gegenseitig und wechselten umfangreiche Anklagebriefe. Da Weisflog die Angelegenheit aus der Schule herausgetragen und sich zunächst an den ortsansässigen Philologen-Verein, dann an den Ehrenrat des Krefelder Landwehrbezirks gewandt hatte, ihm war Weisflog „als mit Uniform verabschiedeter Offizier unterstellt", sah sich Direktor Quossek veranlasst, erneut an die vorgesetzte Behörde in Koblenz zu schreiben.

 

Ausschnitt aus der Personalakte
Geschüttelt, nicht gerührt! „Ich habe heut den Obertertianer Nohl [demnach
ein Schüler der 9. Jahrgangsstufe] am Kopf genommen und geschüttelt, weil er
gelacht hat, als ich die Klasse ernstlich wegen ihrer Gleichgültigkeit,
Unaufmerksamkeit und Trägheit ermahnte. ...".
StA KR, Bestand 72/7, Nr. 760, ohne Blattzählung (13.2.1914).

 

In den Akten findet sich allerdings kein Hinweis, wie diese Sache ausgegangen ist, sondern als letzter Vorfall diese knappe Stellungnahme Weisflogs über die Ausübung des von ihm reklamierten „Züchtigungsrechts", deren Erhalt Direktor Quossek am 13. Februar 1914 quittiert, also sieben Monate vor dem Auszug Weisflogs mit den Krefelder Kameraden zur Westfront.

Die Schulaktenüberlieferung zeigt freilich in ihrer Breite, dass die im Falle Weisflogs zutage getretenen Konflikte keine Einzelfälle waren, sei es hinsichtlich der Mißhelligkeiten der Lehrer untereinander oder zwischen ihnen und ihren Schülern. So schrieb beispielsweise Direktor Quossek im August 1913 auch an Professor Roloff: „Es ist festgestellt, dass Sie im Schuljahre 1912 den Schüler Walter Ramisch in zwei verschiedenen Fällen mehrere heftige Schläge an den Kopf versetzt haben ...". Bei dem Schüler handelt es sich übrigens über den späterhin Begründer der bedeutenden Maschinenbaufirma „Maschinenbaufirma: Dr. Ramisch & Co.", die auf dem Neuer Weg angesiedelt war.

Bildnis von Lehrer Weisflog
StA KR, Bildsammlung, Obj.-Nr. 25932, Porträt von Lehrer Weisflog um 1893.

Oberbürgermeister Ernst Küper mit seinem Enkel Enno
Oberbürgermeister Ernst Küper mit seinem Enkel Enno, Weihnachten 1907.
StA KR, Bildsammlung, unverzeichneter Bestand.

Doch wenden wir nun unseren Blick abschließend auf die Krefelder Gesellschaft des ausgehenden 19. Jahrhunderts, so zeigt zunächst diese Fotoaufnahme aus dem Jahr 1893 Weisflog als Mitglied des Krefelder Wanderbundes. Dies weist auf seine Zugehörigkeit oder auch nur Nähe zum prominenten und tonangebenden Krefelder Bürgertum hin. Im Kreise des Wanderbundes trafen sich allwöchentlich die Herren der führenden Bürgerschicht der Stadt. Mit dem Bund ist die Einrichtung des Hülser Berges als Wanderziel eng verbunden, und so ist auch der dortige Aussichtsturm vom Gründer des Bundes initiiert worden.

Zu den Mitgliedern zählte beispielsweise der zwischen 1882 und 1903 amtierende Oberbürgermeister Ernst Küper. Auf Weisflogs gute Kontakte und seinen gesellschaftlichen Umgang weist folgender Vorgang hin: 1896 erhielt er zusammen mit einem weiteren Lehrer, der am Realgymnasium − dem heutigen Gymnasium am Moltkeplatz − beschäftigt war, infolge der Todesfälle je eines Lehrers am Realgymnasium bezieungsweise. an der Oberrealschule, die frei gewordene jährliche Zulage von 900 Mark. Das teilte das Königliche Provinzial Schul-Kollegium zum einen Oberbürgermeister Küper mit, da die Stadtverwaltung derzeit für die Änderung und Zahlungen der Besoldungen zuständig war, und zum anderen dem Schuldirektor Quossek. Ihm wurde aufgetragen, Weisflog entsprechend zu benachrichtigen. Dies brauchte der Direktor aber nicht mehr zu tun, denn wie er notierte, sei diese Mitteilung „schon vom Oberbürgermeister unmittelbar geschehen".

Das Verhältnis zwischen Direktor und seinem Lehrer zeigte sich, wie gesehen, in den Jahren als oftmals belastet, ging aber nicht in die Brüche. Das wird deutlich an einer Feldpostkarte und einem Schreiben an Quossek aus den Jahren 1915 und 1918 (die im Feld stehenden Lehrer hatten stets ihrem Schulleiter Meldung etwa über Verlegungen zu machen hatten). Mit beiden während des Krieges aus Löwen und Lüttich verschickten Mitteilungen, dankte Weisflog recht persönlich für Glückwunschschreiben, die Quossek zuvor an ihn adressiert hatte. Weisflog fügte hinsichtlich der Oberrealschule an: „Ich habe mich gefreut zu hören, daß an der Anstalt jetzt stetige Verhältnisse eingetreten sind" (April 1915). Aus Lüttich teilte Weisflog am 12. April 1918 unter anderem mit, dass er gerade zum Kommandeur des Krefelder Bataillons ernannt worden ist, welches er dann, wie berichtet, im folgenden November nach Kriegsende und Untergang des Kaiserreichs in die Heimatstadt zurückführte.

Danach setzte Weisflog noch knapp vier Jahre lang seine Lehrtätigkeit an der Oberrealschule fort. Er leistete im März 1920 seinen Beamteneid auf die Republik und 1921 auf die preußische Verfassung. Er ging zwei Jahre später in Pension, was der damaligen belgischen Besatzung durch das nunmehrige Koblenzer „Provinzial Schul-Kollegium", das „Königliche" war gestrichen worden, angezeigt wurde. Weisflog starb am 16.12. 1940, seine Frau Maria sieben Jahre später, beide in Krefeld. Dort wohnten sie zuletzt in Bockum auf der Taubenstraße 16. Von Maria Weisflog ist in den Unterlagen abgesehen von einem Vermerk auf der Meldekartei, dass sie und ihr Mann im Juli 1927 nach Tirol gereist sind, nichts Näheres zu erfahren.

Quellen im Stadtarchiv:

Bestand 72/7 Fichte-Gymnasium, Nr. 760: Personalakte Prof. Dr. Weisflog, ebenda Nr. 704: Personalakte Prof. Dr. Roloff, Nachlass W. Niepoth, Nr. 1015, Personenstandsüberlieferung, Bildsammlung, Bibliothek und Informationsdatenbank des Stadtarchivs.

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