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Geburtsort

DAS GEHEIMNIS UM DAS KRIEEWELSCHE KENK

Er habe sein Leben zum Kunstwerk erklärt, antwortet Joseph Beuys auf eine Frage des Moderators Hermann Schreiber 1980 in der TV-Sendung „Lebensläufe". Der Moderator bezieht sich auf die biographischen Angaben von Beuys in seiner selbst verfassten Vita „Lebenslauf/Werkslauf" und die erste Station „1921 Kleve Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammengezogenen Wunde". Ob dies eine Metapher für Beuys' Geburt sei? Der Künstler bejaht das, man könne es so sagen. Dieser Lebenslauf sei nicht irgendwie zustande gekommen, sondern er sei als ein Kontrastprogramm entworfen worden, zu den allgemeinen bekannten Lebensläufen, die eingefordert werden, wenn Künstler irgendwo auftreten und für Ausstellungen Lebensläufe abgeben sollen. Er habe den Kunstbegriff schon früher anders gedacht und ihn auf sein Leben und auch seine Geburt bezogen. Deswegen habe er sein Leben zum Kunstwerk erklärt. Solche Bilder seien nicht kryptische Dinge, sondern Bilder. Zum Beispiel sei „...eine mit Heftpflaster zusammengezogenen Wunde" nicht kryptisch, sondern ein Bild.

Mit einem sanften Nicken und einen kaum verständlichen „Ja" stimmt Beuys dem Moderator in dieser Gesprächspassage auch zu, dass Kleve 1921 sein Geburtsort sei. Im sogenannten biographischen „Notizzettel" (1961) hatte er der ersten Station „1921 Kleve Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammengezogenen Wunde" noch den Vermerk hinzugefügt: Er gebe immer Kleve an, weil die Geburt in Krefeld rein zufällig gewesen sei. In seinem „Werkslauf/Lebenslauf" (1964) fehlt dieser Zusatz. Den Geburtsort seines künstlerischen Schaffens (Ausstellung) schreibt er eben Kleve zu. Dieser fiktive Geburtsort setzte sich in der allgemeinen Wahrnehmung - und weil Beuys ihn stets nennt - immer mehr durch, so dass dieses auch oftmals in Publikationen akzeptiert wurde. In einem Gespräch in der Vortragsreihe „Selbstdarstellung. Künstler über sich" bekräftigt Beuys 1973, dass für ihn Kleve als Geburtsort aussagekräftiger sei. Er wollte die Zusammenführung von Kunst und Leben ausdrücken. Der tatsächliche Ort der leiblichen Geburt spielt in dieser Konzeption überhaupt keine Rolle. Das Geborenwerden durchzieht jedoch als ein wichtiges Thema sein Werk: Das Zur-Welt-kommen steht als individuelles Erleben sowie als evolutionäres Prinzip eines Neubeginns. Ferner verbindet er die Geburt mit Leiden und mit einer Wunde, die symbolisch für einen gesellschaftlichen Zustand verstanden wird. Die Heftpflaster verweisen auf individuelle und kollektive Verletzungen und Traumata.

Tafel Hinweis zum Geburtsort von Joseph Beuys (c)Simon ErathFoto: Simon Erath

IHN PRÄGTE DIE REGION, DEREN NATUR UND DIE MENSCHEN. NICHTS SPIEGELE DIESEN LANDSTRICH SO WIE DER WEITE HIMMEL, DER AM NIEDERRHEIN SCHON DAS NAHE MEER ERAHNEN LÄSST. DAS LAND IST FLACH. IHM FEHLEN DIE DRAMATIK DER BERGE UND DIE SCHROFFEN HÄNGE DES MITTELRHEINTALS.

Über die Umstände der realen Geburt in Krefeld existieren verschiedene Lesarten, Legenden und Geschichten. „Über die Gegebenheiten seiner Geburt äußerte sich Beuys nie, und auch aus dem Kreis seiner Verwandten sind keine verlässlichen Berichte überliefert", schreibt Biograph Hans Peter Riegel. Eine völlig abweichende Geschichte über die Geburt soll Mutter Beuys' in der Verwandtschaft berichtet haben: Der Junge sei während des Umzugs von Krefeld nach Kleve in einem Straßengraben zur Welt gekommen. In Krefeld hält sich hartnäckig das Gerücht, der Künstler sei in den hiesigen Krankenanstalten geboren worden. Der Hausarzt habe die Mutter aus Furcht vor Komplikationen von Kleve, wo die Eltern angeblich wohnten, in die Krefelder Frauenklinik überwiesen, wie es in einer Beuys-Biographie von Heiner Stachelhaus geschildert wird.

Dass Beuys tatsächlich in Krefeld geboren worden ist, kann anhand von zwei Dokumenten nachgewiesen werden: Die vorhandene Geburtsurkunde und die Personenstandskarte im Stadtarchiv Krefeld, welche alle Wohnorte in der Stadt, alle Personen des Haushaltes und die Umzüge aufführt. Vater Joseph Jakob Beuys lebte schon elf Jahre in Krefeld, seine Mutter Johanna Beuys seit November 1920. Seitdem waren sie im Haus am Alexanderplatz 5 gemeldet. Das Paar heiratete im Oktober 1920 im rechtsrheinischem Spellen bei Voerde, dem Heimatort von Johanna. Da Joseph Beuys am 12. Mai 1921 geboren wurde, war seine Mutter mit ihm bereits vor der Hochzeit schwanger - am konservativ-katholischen Niederrhein nicht unproblematisch. Die eigentliche Geburt und deren Umstände erscheinen dann allerdings wirklich etwas mysteriös: Die Geburtsurkunde mit der Nummer 675, ausgefüllt vom Standesbeamten Neuer, nennt als Ort der Niederkunft um „elfeinhalb Uhr" (23.30 Uhr) den Dampfmühlenweg. Jedoch ohne Hausnummer, was von Amts wegen sehr ungewöhnlich ist, sogar als grober Fehler angesehen werden kann. „Mit der mangelhaften Adressangabe deutet sich an, dass Joseph Beuys in einem Hauseingang, vielleicht irgendwo am Rand des Gehwegs oder in einer Droschke, geboren wurde", schreibt Riegel. Die fehlende Hausnummer lasse diese These zu. Diese bleibt jedoch eine Spekulation. Auch die Vermutung, Mutter Beuys wollte zu dem im Krefelder Adressbuch aufgeführten Wundarzt und Geburtshelfer, Dr. Anton Goth, im Haus mit der Nummer 49, kann nicht zu treffen, weil der Mediziner seit 1920 nicht mehr praktizierte. Was sich tatsächlich in dieser Nacht am Dampfmühlenweg zugetragen hat, bleibt wohl eine offene Frage.

„1921 Kleve Ausstellung einer mit Heftpflaster zusammengezogenen Wunde" - ob es sich bei diesem Bild auch um eine persönliche Wunde handelt, die mit der realen Geburt im Zusammenhang steht? Wie gesagt, in seinem Werk tauchen das Thema Geburt und Materialien wie das Heftpflaster immer wieder auf. Zum Beispiel in der Skulptur/Plastik „Badewanne" (1960) verarbeitet Beuys unter anderem Mullbinden und Heftpflaster. Während der Wanderausstellung „Realität - Realismus - Realität" Anfang der 1970er-Jahre wurde sie mit dem Vermerk gezeigt, in dieser Wanne sei Joseph Beuys als Säugling gebadet worden. Knapp vier Monate nach der Geburt des Sohnes verlässt die Familie Beuys Krefeld. Sie meldet sich am 23. September 1921 ab. Als neue Adresse gibt sie Kermisdahlstraße 24 in der Klever Unterstadt am Spoykanal an.

Die Frage des Geburtsortes beantworten Museen auf den kleinen Hinweisschildern zu den Kunstwerken heute unterschiedlich: Einige nennen Krefeld, andere Kleve. Im Deutschen Bundestag in Berlin musste diese Frage jedoch eindeutig geklärt werden: Im August 2003 titelte eine Krefelder Tageszeitung „Beuys ist wieder ein Krefelder". Der damalige Bundestagspräsident Wolfgang Thierse wurde vom Abgeordneten Bernd Scheelen darauf aufmerksam gemacht, dass im Reichstagsgebäude in der Nähe des Plenarsaals jenes Hinweisschild des Kunstwerkes „Tisch mit Aggregat" von Joseph Beuys mit Kleve den falschen Geburtsort nenne und es erfolgte eine Korrektur.

Er sei ein Niederrheiner, definierte Beuys in Klever Singsang einmal für sich selbst seine Herkunft. Ihn prägte diese Region, deren Natur und die Menschen. Nichts spiegele diesen Landstrich so wie der weite Himmel, der am Niederrhein schon das nahe Meer erahnen lässt. Das Land ist flach. Ihm fehlen die Dramatik der Berge und die schroffen Hänge des Mittelrheintals. Blauer Himmel, Nebel oder Wolken bestimmen die Stimmung am Strom. „Wenn ich mir heute ein Jugendbildnis von Joseph Beuys anseh', das mit dem weißen Hemd und dem offenen Kragen, wo er so vor sich hinblickt, das ist das niederrheinische Auge, das bis in die letzten Winkel der Welt sieht", schrieb einst der Kabarettist Hans Dieter Hüsch.